Grenzen zwischen Klassik und Jazz haben für Lucienne Renaudin Vary nie eine Rolle gespielt. Mit nach eigenen Worten „kindlicher Neugier“ bewegt sich die 25-jährige Trompeterin durch das Repertoire, stets auch auf der Suche nach weniger bekannten Schmuckstücken. Am Vorabend eines Konzerts schaltet sie sich per Videotelefonie aus ihrer Heimatstadt Le Mans zum Interview.
Sie hatten als Kind zunächst Klavier- und Tanzunterricht. Wie sind Sie zur Trompete gekommen?
Renaudin Vary: Das war ein glücklicher Zufall. Die Lehrer an meiner Musikschule haben in einem Atelier für Kinder unterschiedliche Instrumente vorgestellt. Ich hatte zuvor schon von Geige, Cello und Flöte gehört, aber noch nie von der Trompete! Die kam mir ziemlich exotisch vor, und ich wollte sie sofort ausprobieren.
Was fasziniert Sie heute daran?
Renaudin Vary: Jeder Trompeter hat einen unverwechselbaren Klang, den man anhand seiner Atmung, des Drucks, den er auf das Mundstück ausübt, und seines Ansatzes erkennt. Man kann auf der Trompete so viele unterschiedliche Genres bedienen. Mit einem Dämpfer kann ich den Klang verändern, auch wenn ich das nur selten nutze. Und letztlich ist auch die Art und Weise faszinierend, wie das Instrument gehalten wird. Die Trompete ist wie eine natürliche Verlängerung meines Körpers.
Auf der Bühne erlebt man Sie barfuß. Wie wichtig ist der direkte Kontakt mit dem Boden für Ihr Spiel?
Renaudin Vary: Bei den Aufnahmen für mein erstes Album war ich sehr aufgeregt. Ich weiß nicht mehr warum, aber in einem Moment habe ich einfach meine Socken ausgezogen, vielleicht um mich mehr wie zuhause zu fühlen. Das hat sofort positiv gewirkt. Wenn ich barfuß auftrete, fühle ich mich sofort wohl, auch die Bewegungen fallen mir leichter. Musik und Tanz sind für mich eine Einheit, die Musik fließt durch meinen Körper. Deswegen könnte ich nie statisch auf der Bühne stehen.
Sie sind in der Klassik und im Jazz zuhause. Inwiefern profitieren Sie vom jeweils anderen Genre?
Renaudin Vary: Ich habe nach einem Jahr klassischem Unterricht am Konservatorium mit dem Jazz begonnen. Das war so, als ob ich zweisprachig aufwachsen würde, und hat mir viel Vertrauen am Instrument gegeben. Natürlich ist das auch hilfreich beim Improvisieren. Bach und Liszt haben das ja noch wie selbstverständlich gemacht, mittlerweile hat man das in der Klassik eher verlernt. Ich finde es klasse, dass die Anforderungen im Jazz ganz andere als die in der Klassik sind. Dort sucht man nach dem perfekten Klang und will bloß keinen falschen Ton spielen. Im Jazz gibt es das nicht. Im Gegenteil, wenn der Ton ein bisschen knackt, wird es sofort interessant. Die Klassik wiederum bringt mir eine gewisse Strenge und Sorgfalt in den Jazz.
Was war Ihre erste Begegnung mit dem Jazz?
Renaudin Vary: Meine Mutter hat Chet Bakers Album „Let’s Get Lost“ aus der Bibliothek mitgebracht, bis heute ist das meine Lieblingsplatte! Ich verehre diesen Trompeter, denn selbst seine Improvisationen klingen, als ob sie im Vorfeld durchkomponiert worden wären, so rein und perfekt sind die.
Haben Sie weitere Vorbilder, die Sie inspirieren?
Renaudin Vary: Natürlich! Als Jugendliche habe ich vielen Trompetern zugehört: Chet Baker, Clifford Brown, Lee Morgan, aber auch Alison Balsom und Tine Thing Helseth. Die waren ja die einzigen bekannten Solistinnen, und als junges Mädchen war es schwierig, sich mit Männern zu identifizieren.
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Dirigenten?
Renaudin Vary: Ich genieße es jedes Mal aufs Neue, den Dirigenten zu treffen und mich über das Stück, das wir gleich gemeinsam spielen werden, zu unterhalten. Musik als Beruf hat etwas Kindliches an sich in dem Sinne, dass man dabei immer etwas Neues lernt. Nehmen wir die sehr bekannten Konzerte von Hummel und Haydn, die ich seit mehr als zehn Jahren spiele. Natürlich habe ich eine Vorstellung davon, wie sie klingen sollen, doch der Austausch mit dem Dirigenten eröffnet wieder eine Perspektive, die mich bereichert. Ich liebe es, bei jedem Auftritt eine Kleinigkeit anders zu machen. Das bewahrt der Musik eine gewisse Überraschung und schützt mich vor Routine.
Sie haben bereits wichtige Preise gewonnen, darunter einen Opus Klassik und den schweizerischen Arthur-Waser-Preis. Wie wichtig sind Ihnen solche Auszeichnungen?
Renaudin Vary: Das freut mich natürlich, denn auch wenn die Musik eine Leidenschaft ist, bedeutet sie harte Arbeit. Eine Anerkennung seitens der Fachwelt oder der Öffentlichkeit ist dann eine schöne Belohnung.
Wie stellen Sie Ihre Programme zusammen?
Renaudin Vary: Oh, das passiert aus meinem Inneren heraus. Ich habe mich schon immer für unterschiedliche Musikstile interessiert. Sobald ich an einem Komponisten gefallen finde, will ich möglichst viel über ihn erfahren. Wir kennen alle „Oblivion“ und „Libertango“ von Astor Piazzolla, aber wussten Sie, dass er mit dem Jazz-Saxofonisten Gerry Mulligan zwei Stücke aufgenommen hat? Wahre Schmuckstücke! Das gilt auch für das Konzert von Henry James, das ich auf einem Album mit Hummel und Haydn eingespielt habe. Mir macht es Freude, ganz bekannte Werke mit kleinen Schätzen zu kombinieren.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie neues Repertoire einstudieren?
Renaudin Vary: Ich hatte schon früh ein stark ausgeprägtes auditives Gedächtnis, das heißt, ich lerne einfach viel beim Hören. Als Kind habe ich immer eine CD eingelegt und mir vorgestellt, ich stünde mit einem ganzen Orchester in meinem Zimmer (lacht). Nun ja, es ist natürlich viel Fleißarbeit. Manchmal feile ich eine Stunde lang an zwei Takten. Ich eigne mir immer zwei unterschiedliche Tempi an, um im Fall eines Falles vorbereitet zu sein.
Haben Sie einen musikalischen Traum?
Renaudin Vary: Ich lebe heute den Traum, den ich als kleines Mädchen hatte: Ich stehe als Solistin mit wunderbaren Orchestern und fantastischen Dirigenten gemeinsam auf der Bühne, reise viel und begegne unglaublichen Musikern. Das ist schon ziemlich gut, oder? Ich will weiterhin eklektische Projekte umsetzen, das hat sich in meine DNA geschrieben. Außerdem liebe ich Experimente, schauen Sie (hält eine Trompete in die Kamera): Ein Instrumentenbauer hat mir die gemacht und eine kleine Schiene verbaut, die es im Normalfall nicht gibt. Dadurch kann man noch tiefere Noten spielen. Auch das Komponieren interessiert mich, denn unsere Trompetenfamilie hat zu wenig Repertoire.
Spüren Sie nach zehn Jahren auf der Bühne noch so etwas wie Lampenfieber?
Renaudin Vary: Da spielen viele Faktoren eine Rolle: ob ich gut geschlafen und gut gegessen habe, ob meine Stimmung passt. Als ich klein war, bin ich einfach so auf die Bühne gegangen, habe mich nicht einmal eingespielt.
Und heute? Haben Sie eine Routine vor Auftritten?
Renaudin Vary: Es gibt etwas, das ich vom Morgen des Konzerttags an nicht mache: Trompete spielen! Und wenn, nur so wenig wie erforderlich, sodass ich ausgeruht und mit voller Kraft auf die Bühne gehen kann. Unser Instrument ist muskulär sehr anstrengend, da kann man schnell ermüden, wenn man nicht aufpasst.
Sie sollen eine besondere Beziehung zum Lied „Edelweiß“ aus „The Sound of Music“ haben.
Renaudin Vary: Oh ja! Als Kind habe ich die Verfilmung des Musicals in Dauerschleife angesehen und im Wohnzimmer meiner Eltern nachgespielt und mitgesungen, als ob ich selbst zur Familie Trapp gehörte. Das ist meine „Madeleine de Proust“. Daher war es mir besonders wichtig, dieses Lied für mein Album „Winter Gardens (Jardins d’Hiver)“ aufzunehmen.