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INTERVIEW LARS VOGT

„Ich habe nie etwas Sinnvolleres gemacht“

Lars Vogt jammert nicht über eine desinteressierte Jugend – er begeistert sie

vonChristian Schmidt,

Musikalische Nachwuchsarbeit ist seit einigen Jahren Modeerscheinung und Notwendigkeit gleichermaßen. Kein Orchester, das auf sich hält, kein Theater, das sich Publikum erziehen soll, kein Museum, das den Wert seiner Sammlung bewahren will – überhaupt niemand aus dem Reich der Hochkultur kann auf eigene Pädagogen verzichten, die einer weitestgehend kulturfern aufwachsenden Jugend den musischen Unterricht ersetzen müssen. Der klassische Musikbetrieb hat es dabei am schwersten, steht er doch in Konkurrenz zu einer der wichtigsten Freizeitbeschäftigungen der Jugend: ihrem Musikkonsum.

Unter den zahllosen Projekten erlangen einige wenige überregionale Aufmerksamkeit wie Simon Rattles Tanzkurs „Zukunft@BPhil“, die allermeisten wirken jedoch örtlich begrenzt vor sich hin. Gemein ist den meisten, dass sie von den Veranstaltern initiiert werden, die um ihr zukünftiges Publikum bangen. Deutschlands international erfolgreichster Pianist Lars Vogt nahm die musikalische Nachwuchsarbeit selbst in die Hand und geht mit vielen berühmten Kollegen auf ehrenamtlicher Basis in Schulen, um Beruf und Berufung vorzustellen. Seine „Rhapsody in School“ wirkt direkt dort, wo der Unterricht versagt. Christian Schmidt sprach mit dem 42-jährigen Pianisten über seine Beweggründe.

Ein Drittel bis die Hälfte des ohnehin spärlichen Musikunterrichts fällt an den Schulen aus, wenn er nicht gleich ganz abgeschafft wird. Was folgt daraus?

Die Pisafalle hat den Schulen einen Erfolgsdruck auferlegt, der Unterricht muss effizienter werden. Ich werde allen Ernstes gefragt, was es den Schülern bringt, wenn sie wissen, wer die „Zauberflöte“ geschrieben hat. Da kann ich nur sagen: Hier geht es nicht nur um Mozart, sondern vor allem darum, was die Oper in den Menschen auslöst. In der Schule wird immer mehr Stoff vermittelt, abfragbares Wissen wird zur Basis allen Lernens erklärt, das hier mit Büffeln gleichgesetzt wird. Da geht das Denken in Zusammenhängen verloren, und ich fürchte, das ist auch so gewollt. Nachzubohren und infrage zu stellen wird ebenso vernachlässigt wie die emotionale Intelligenz zu schulen.

Das müssen Sie genauer erklären.

Das materialistische Funktionieren steht an erster Stelle, die Schüler müssen Noten abliefern, so wie sie später einen Job abliefern müssen. Seelenbeschäftigung ist nicht mehr zeitgemäß. Wir leben in einer gesättigten Gesellschaft, in der man sich mit echten Emotionen meistens nur individuell beim Psychiater beschäftigt. Worin besteht denn der Sinn des Lebens? Sich mit dem Seelenleben auseinanderzusetzen, ist doch kein Luxus!

Um die Frage, wo ich gerade bin, geht es nur in der Einzeltherapie?

Eine „Dichterliebe“ könnte einem Menschen vielleicht viel besser helfen, sich in einerconditio humana zu verorten. Ein Robert Schumann sprach zu seiner Zeit eine ganze Generation an. Heute hat es die Elterngeneration zu verantworten, dass Kinder und Jugendliche kein ernsthaftes Angebot mehr haben, zu sich selber zu kommen.

Was können Sie dagegen tun?

Mein lieber Kollege Simon Rattle hat gesagt, wir kämpfen um jede Seele. Natürlich versuche ich die beschriebene Problematik auch auf politischer Ebene anzusprechen. Aber was meine freischaffenden Musikerfreunde und ich konkret selbst tun können, ist: in die Schulen gehen, den Jugendlichen vorspielen, erklären, was die Musik bedeutet und vor allem, wie sie wirken kann. Dann sehe ich manche Augen aufleuchten.

Erklären klingt so belehrend.

In erster Linie versuche ich, Ohren und dann Herzen zu öffnen. Ich verstehe es gar nicht als meine Aufgabe, faktisches musikalisches Wissen zu vermitteln. Ich selbst komme aus einem Haushalt, in dem nicht ständig klassische Musik stattgefunden hat. Mein großer Bruder hat sich immer für Rock und Pop interessiert, was ich übrigens auch beim Joggen höre. Aber irgendwann wuchs der Wunsch nach mehr.

Und diese Initiation geben Sie weiter, oder was ist Ihre Hoffnung?

Dass auch bei lustlosen – oder sagen wir lieber: ungeübten – Schülern ganz weit hinten im Bewusstsein die Erinnerung bleibt, dass da ja mal so ein Verrückter war, der beruflich so eine komische Sache machte. Auch wenn ein Instrument zu spielen vielen Jugendlichen als Teil ihres Lebens absurd erscheinen mag, haben sie doch vielleicht eher einen anderen Zugang zur Musik, wenn ihnen so ein Verrückter vor der Nase sitzt, als wenn sie im Musikunterricht Platten hören.

Wie oft lässt denn Ihr prall gefüllter Terminkalender solche Schulbesuche zu?

Ich schaffe das fünf bis sechs Mal im Jahr, jeder Tropfen höhlt den Stein.

Und wie darf man sich das praktisch vorstellen?

Manche Schulen kommen von sich aus auf uns zu, manche fragen wir selber an. Ich zum Beispiel gehe sehr gern in die Schule meiner Tochter. Dabei besuchen wir alle Arten von Bildungseinrichtungen: vom Musikkindergarten über die Hauptschule bis zum Gymnasium.

Gibt es da Unterschiede in der Wahrnehmung?

Kaum, höchstens in der Einstellung. Entscheidend ist doch, wie lebendig man Kindern etwas erzählen kann. Wenn ich beschreiben kann, wie ich empfinde und wie ich gestalte, erreicht sie meistens auch der Zauber der Musik – im wahrsten Sinne des Wortes.

Sie hören also wenigstens zu.

Und kommen immer mehr mit! Ich sage Ihnen: Ich habe nie etwas Sinnvolleres gemacht. Kürzlich nahm mich ein 16-Jähriger zur Seite und sagte, dass seiner Klasse mein Besuch sehr viel bedeutet habe. Andere malen Bilder oder schildern mir in E-Mails erst nachträglich ihre Eindrücke. In meiner Heimatstadt Düren habe ich vor meinem alten Lehrer und dessen Klasse Chopins b-Moll-Sonate gespielt. Da kamen die erstaunlichsten Ideen! Die Schüler haben selbst angefangen zu interpretieren, sie haben sich einfach wirklich darauf eingelassen. Ob „Stimmengewirr beim Essen nach der Beerdigung“ oder eine „Zeitmaschine, die rückwärts läuft“ – die Bilder der Kinder waren faszinierend. Offenheit spielt da eine große Rolle. Ich finde es absurd, feststehende Deutungen als Lehrmeinung zu verkaufen.

Was fehlt denn dem herkömmlichen Musikunterricht?

Es gibt natürlich hervorragende und charismatische Musiklehrer. Aber oft ist der Unterricht langweilig, weil er formalisiert ist. Es hat keinen Sinn, einem völlig unvorbereiteten Kind etwas über den Quintenzirkel zu erzählen. Musik ist ein Medium des Gefühls. Selbst bei Bach ist – für mich jedenfalls – die emotionale Herangehensweise die erste Wahl, das ist auch mein künstlerisches Credo insgesamt. Letzlich geht Musik immer über die emotionale Ebene, die ich subjektiv ausdrücken und interpretieren will, auch wenn ich mich damit angreifbar mache und gegen den Strom schwimme.

Wie erreicht man diese emotionale Ebene in der Schule?

Jeder Lehrer muss lernen, mit den Jugendlichen wirklich zu sprechen, und ein bisschen hat das immer auch mit einer Reise in die eigene Kindheit zu tun. Das merke ich an meiner Tochter. Ich habe den Ehrgeiz, diese Jugendlichen zu erreichen, so wie ich mein Publikum erreichen will, das ist identisch.

Verraten Sie uns Ihr Geheimrezept.

Es gibt keins. Charismatische Persönlichkeiten wie Christian Tetzlaff wirken aus sich heraus. Er geht zum Beispiel ausschließlich in ganze Klassenverbände, weil er damit die meisten erreicht und mit vielen Jugendlichen gut umgehen kann. Die Hauptsache ist, dass man so natürlich wie möglich auftritt. Unsere Musiker glauben so sehr an ihre Musik, dass sie bei der „Rhapsody in School“ der Sache wegen mitarbeiten, nicht aus PR-Gründen.

Jetzt machen Sie sogar ein eigenes Konzert mit ersten Namen wie Daniel Hope, Sabine Meyer oder Alban Gerhardt draus.

Darauf bin ich sehr gespannt. Viele gute Musikerfreunde habe ich durch mein Kammermusikfestival in Heimbach gewonnen. Sie sitzen an den ersten Pulten des Orchesters, das ansonsten vom Berliner Musikgymnasium „Carl Philipp Emanuel Bach“ kommt. Dass sie zusammen auf der Bühne sitzen, freut mich ganz besonders. Wir arbeiten auch gut mit den Pädagogen vom Berliner Konzerthaus zusammen, die an die Schulen herangehen und die Klassen einladen.

Wie hält man so ein Projekt am Laufen?

Sabine von Imhoff und Monika Hoenen sind Projektleiterinnen und koordinieren ein deutschland- und mittlerweile europaweit agierendes Team, das die Schulbesuche der Künstler organisiert. Für das Projekt werden wir von einem Partnersponsor unterstützt. Aber das alles soll wachsen und kostet auch Geld. Denn an manche Schulen wollen wir häufiger gehen, damit der Effekt größer wird. Je stärker die Nachhaltigkeit, desto besser, aber auch ein einmaliger Funke zündet besser als gar keiner.

Werden aus den Jugendlichen, die Sie und Ihre gleichermaßen berühmten Kollegen bearbeitet haben, automatisch Konzertgänger?

Darum geht es nicht. Das kann man auch nicht erwarten. Wir wollen sie aus der Reserve locken. Ihnen scheinbar abseitige Fragen stellen wie etwa, wem der letzte Ton gehört in der Liszt-Sonate, dem „Guten“ oder dem „Bösen“. Den Menschen Doktor Faustus können Sie mit 14 Jahren nicht begreifen, aber in einer tieferen Ebene erahnen, worum es vielleicht geht im Leben.

Vielleicht ist so ein Jugendlicher sogar eher bereit, darüber nachzudenken, als eine goldbehängte Dame, die ins Konzert geht, um ihr Kleid auszuführen.

Auch diesem Publikum will ich etwas mitgeben, das ist mein Ehrgeiz. Es gibt, wenn Sie so wollen, kein ideales Publikum, weder bei Kindern noch bei Erwachsenen. Deswegen riskiert auch kein Veranstalter mehr etwas. Wissen Sie, ich will nicht bekehren, ich will Neugier wecken. Und wenn es bei dem einen oder anderen fruchtet, bin ich glücklich.

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