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Interview Khatia Buniatishvili

„Mein Gefühl dabei ist: Frühling auf dem Friedhof“

Auch wenn die Tasten unter ihren Händen so aussehen mögen: Schwarz-Weiß-Denken liegt Khatia Buniatishvili fern.

vonHelge Birkelbach,

Heute so, morgen so. Es ist zum Verrücktwerden! Was gerade gültig ist, kann sich schnell ganz anders darstellen. Eine Sackgasse, ein Irrtum, eine neue Erkenntnis: Der aufgeklärte Mensch muss sich damit abfinden, dass Lösungen nie einfach sind, dass man um sie ringen muss. Nicht erst seit Corona. Genau in dieser schwierigen Zeit hat die georgisch-französische Pia­nistin Khatia Buniatishvili ihr neues Album aufgenommen. Der Titel stand allerdings schon vor der Verbreitung des heimtückischen Virus fest.

Ihre neue CD heißt „Labyrinth“. Welches Konzept steckt dahinter?

Khatia Buniatishvili: Das Wort selbst sagt schon einiges darüber. Das Labyrinth ist dabei kein visuelles Konzept, sondern etwas Abstraktes, das man sich im Geist vorstellt. Alles was sich im Geist abspielt und in den Erinnerungen befindet, auch Gefühle und Per­spektiven, gehören dazu. Also nicht das, was gerade um einen herum passiert, keine Bewegungen und Aktionen, sondern das Innenleben. Die beständige Suche nach Lösungen, um einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Der Intellekt findet die Lösung, die oft eine Erlösung darstellt, in den Emotionen. Das Labyrinth ist einfach da und wir müssen damit zurechtkommen. Der Mensch beweist darin seine Fähigkeit, kreativ zu sein und die immer neuen Abzweigungen zu meistern. Wie kompliziert das Laby­rinth ist, hängt vom einzelnen Menschen ab, es ist ein Resultat seiner selbst. Insofern ist es auch nicht statisch, sondern verändert sich je nach Gemütszustand. Der Mensch will über­leben, deshalb ist er kreativ. Wenn er nicht ertragen kann, was er sieht, muss er es ändern. Weil er nicht akzeptiert, dass es ein Schicksal ist, gegen das man nichts tun kann. Manchmal sind die Dinge auch viel einfacher, als man denkt. Dann machen wir uns das Leben komplizierter als nötig.

Mögen Sie die Einfachheit?

Buniatishvili: Ich mag die Möglichkeit, dass einige Dinge einfach sein können und andere kompliziert. Anders ausgedrückt: Ich mag die Einfachheit, weil ich weiß, dass auch das Komplizierte existiert. Es muss beides geben. Pessimismus, Optimismus, Träume, Realität, Imagination … Das ist die Schönheit unseres Lebens – eben das Labyrinth.

Inwiefern findet sich diese Betrachtung in der Musik, auch auf Ihrem Album? Ist die Musik von Erik Satie zum Beispiel einfach?

Buniatishvili: Das würde ich nicht sagen. Seine Musik ist das Ergebnis, nach­dem man das Komplizierte mit seiner manchmal toxischen Wirkung erkannt hat. Für mich ist Saties Musik das, was man fühlen kann, wenn man nach einer schlaflosen Nacht sehr früh am Morgen spaziert. Die Schönheit der Stadt, die noch frische Luft, die Stille fegt die dunklen Gedanken der Nacht weg. Die Musik klingt zwar einfach, aber nur deshalb, weil es vorher viel zu kompliziert war. Diese Einfachheit besitzt deshalb noch mehr Wert und Schönheit. Es ist die Schönheit des Realismus, der zauberhaft sein kann.

Was ist, wenn man an die „Barricades Mystérieuses“ stößt?

Buniatishvili: Das Stück von François ­Couperin, das ich gewählt habe, ist ein Per­petuum mobile. Es fängt nicht zufällig mit einer Pause an. Es gibt einen Raum im ersten Takt, keinen wirklichen Anfang, sondern man hat das Gefühl, dass die Musik schon immer da war und einfach weiterläuft. Und es gibt auch kein wirkliches Ende, es klingt weiter. Es ist eine mysteriöse Grenze. Diese Pause am Anfang bedeutet, dass es schon vorher etwas gab, bevor wir angefangen haben. Wir sind nicht der Anfang von etwas. Wir sind nur Teil des Kon­tinuierlichen. Es ist vielleicht traurig, aber auch tröstend. Die Pause bei John Cages berühmter Komposition „4:33“ hat dagegen eine ganz andere Bedeutung. Sie ist die Stille. Mein Gefühl dabei ist: Frühling auf dem Friedhof. Es gibt die Bewohner, die auf diesem Friedhof leben, und es gibt die Besucher, die im Frühling leben, weil sie gerade am Anfang ihrer Existenz stehen. Ein Kontrast, der aber nur zusammen funktionieren kann. So wie das Schöne nicht ohne das Schreckliche existiert.

Warum haben Sie für die Aufnahme die Philharmonie de Paris gewählt?

Buniatishvili: Die Idee zum neuen Album existierte schon seit etwa zwei Jahren. Nun kam der Corona-Lockdown dazwischen und ich war die ganze Zeit in Paris. Konzerte waren nirgendwo möglich, aber Aufnahmen. Ich liebe diesen Saal, weil er auf der einen Seite unglaublich powerful ist, auf der anderen Seite sich aber nicht jede Note im Raum verliert. Der Ton bleibt klar.

Khatia Buniatishvili

Warum eröffnet das Album mit Ennio Morricone?

Buniatishvili: Ich wollte die Musik verschiedener Epochen und Stile mischen. Das ermöglicht eine gewisse Dramaturgie, die sich aufbaut, aber auch labyrinthisch und mitunter nicht ganz logisch wirkt. „Deborah’s ­Theme“ von Morricone mag ich sehr. Ich habe ein Arrangement für Klavier erstellt. Ein solches Arrange­ment bietet die Möglichkeit, einen Einblick in die Welt des Komponisten zu erhalten, in seine Persönlichkeit und seine Inspiration. Morricone war ein wirklich groß­artiger Komponist, er verdient seinen Platz unter den ganz Großen. Das habe ich auch zum Produzenten gesagt, und der schien über die Wahl als Eröffnungsstück ein wenig überrascht. Es war wie eine Intuition: Morricone lebte da noch. Ich habe nie verstanden, warum er nur für einen einzigen Filmsoundtrack einen Oscar bekommen hat, nämlich für „The Hateful Eight“ von Quentin Tarantino.

Sie sagten einmal, Partituren seien wie „Liebesbriefe des Komponisten“. Können Sie das erläutern?

Buniatishvili: Wenn man über Briefe spricht, spricht man über die Zeit, die man sich für andere Menschen nimmt. Heute nehmen wir uns immer weniger Zeit für andere. Wir haben Textnachrichten, Facetime, Facebook – das ist nicht Zeit, in der man sich wirklich persönlich und intensiv einer Person widmet. Es ist wichtig, etwas Neues zu erfahren oder zu lernen. Die Partitur ist wie ein Brief, um die Verbindung zwischen dem Komponisten und mir selbst herzustellen. Ich muss diese Verbindung in Liebe fühlen, um zu entscheiden, ob ich eine Komposition spielen möchte oder eben nicht. Wenn man mit Liebe etwas liest, versucht man sehr, dieses Zeugnis in der Reife und Tiefe zu verstehen. Die Partitur ist eine persönliche Message. Was der Künstler schreibt, ist viel persönlicher als das, was Biografen über ihn schreiben. In der Musik lassen sich Emotionen und Gedanken nicht verstecken, man kann nicht lügen.

Deshalb auch Bach, der immer aufrichtig ist, ob im Sakralen oder auch Profanen.

Buniatishvili: Genau! Bach hat die perfekte Balance zwischen Himmel und Erde gefunden. Es ist so schön und trotzdem so kompliziert, was er macht. Er mag das Leben, er mag die Liebe, das fühlt man in jeder Note. Es gibt so viel Erde in seinem Werk, sehr mensch­lich. Deshalb mag ich auch die Interpretationen von Glenn Gould, weil sie sehr individuell sind. Das ist kein sakrales Anhimmeln, sondern hat Leben und Liebe. Niemand hat das so stark akzentuiert wie Gould, aber das war ganz natürlich für ihn, er war ein Genius. Seine Interpretationen haben die Türen geöffnet, Bach endlich mal anders zu sehen und zu hören.

In der Saison 2014/15 waren Sie Künstlerin der Reihe „Junge Wilde“ am Konzerthaus Dortmund. Fühlen Sie sich noch als junge Wilde?

Buniatishvili: Ich war nie nur Wilde oder nur Junge. Als Kind war ich überglücklich, als ich endlich lesen konnte. Mit neun Jahren habe ich Dostojewskis „Der Spieler“ gelesen, dann Goethes „Faust“ und andere Klassiker. Ich war sozusagen jung alt. Ich war alt in meinem Kopf, es gab so viele interessante Bücher zu entdecken. Ich habe meine eigene Welt gehabt, diese Welt war sehr reich. Und wild? Nein, war ich auch nicht. Ich hatte natürlich viel Energie, aber dieses Temperament sollte irgendeine Richtung haben, dachte ich. Mein Interesse galt immer den Dingen, die Reife haben und die es mir ermöglichen, mich auszudrücken. Aber es gibt so viele Möglichkeiten, wie ich später feststellen konnte. Ich will nicht nur das eine oder das andere sein.

Gibt es etwas – ob nun in Ihrer Musik oder dem persönlichen Leben – das man als „Jugendsünde“ bezeichnen könnte?

Buniatishvili: Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern. Ich war eigentlich immer ein braves Mädchen, war immer höflich zu meinen Lehrern und Professoren und habe zugehört. Aber es gibt eine lustige Anekdote, fällt mir gerade ein. Ich war etwa neunzehn Jahre alt, als ich mir die Haare verbrannte. Ein Drama. Also rasierte ich mir die Haare komplett ab. Ich sollte ein Konzert in Lockenhaus geben, mein erstes wichtiges Festival. Früher trug ich immer lange Haare, mit Glatze habe ich mich geschämt. Ich hatte normalerweise immer eine Perücke dabei, aber Gidon Kremer bat mich spontan zu einem Auftritt in einer Kirche. Ich hatte diesmal nur einen Hut bei mir. Ich zog ihn mir also auf und ging auf die Bühne. Dann habe ich ihn beiseitegelegt und so gespielt.

Album Cover für Labyrinth

Labyrinth

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