Karina Canellakis spricht sehr gut Deutsch, das Interview findet dennoch in Englisch statt. Vor ihrem Elbphilharmonie-Debüt erscheint ihr die Muttersprache komfortabler. Die Dirigentin, die auch als Geigerin reüssierte, stammt aus einer New Yorker Melting-Pot-Familie: Ihr Vater hat griechisch-russische Wurzeln, ihre Mutter stammt aus Nashville, Tennessee. Auf dem Sofa der Garderobe erzählt sie beseelt von ihrer Karriere als Dirigentin, die in Deutschland begann.
Woher können Sie so gut Deutsch?
Karina Canellakis: Ich habe zwei Jahre in Berlin gewohnt, als ich an der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker war. Dann habe ich zehn Jahre lang kein Deutsch gesprochen und jetzt dirigiere ich viele deutsche Orchester. Mein Mann ist Deutscher, ich bin also wieder im Training.
Wenn man sich Ihren Konzertplan ansieht, könnte man meinen, Sie wohnen im Flugzeug. Wo ist gerade ihr Zuhause?
Canellakis: Natürlich wird New York immer meine Heimat sein, meine Eltern und mein Bruder wohnen dort und ich komme mehrmals im Jahr zu Besuch. Seit Juni habe ich eine Wohnung in Amsterdam und wir versuchen, uns jetzt dort häuslich einzurichten.
Gibt es denn einen Lieblings-Konzertsaal in der Welt?
Canellakis: Wundervolle Erinnerungen verbinden mich mit der Berliner Philharmonie, jetzt bin ich als Erste Gastdirigentin des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin regelmäßig dort. Ich liebe den klaren und runden Klang des Saals. Natürlich mag ich auch das Concertgebouw in Amsterdam, nicht nur als historisches Gebäude, sondern weil es jetzt auch mein neues künstlerisches Zuhause wird. Als New Yorkerin habe ich selbstverständlich auch zur Carnegie Hall eine emotionale Beziehung.
Welchen Saal müssen Sie unbedingt kennen lernen?
Canellakis: Ich war sehr neugierig auf die Elbphilharmonie – und ich bin beeindruckt! Jeder Konzertsaal hat seine Stärken und seine Herausforderungen. Die Bühne ist eher breit und die Balance ist schnell in Gefahr. Das NDR Elbphilharmonie Orchester kennt den Saal aber schon sehr gut und meistert diese Klippen hervorragend! Auch im Musikverein Wien will ich unbedingt dirigieren, dort bin ich bisher als Violinistin aufgetreten.
Sie haben als Dirigentin eine andere Perspektive im Saal als zu Ihrer Zeit als Orchestermusikerin. Wie ist das Verhältnis zum Publikum, wenn man überwiegend mit dem Rücken zu ihm steht?
Canellakis: Man spürt es mehr, als man es hört. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man merkt, dass die Menschen vollends gepackt sind und auch bei leisen Stellen nicht husten! Ich kann auch den Applaus sehr genießen. Das deutsche Publikum klatscht sehr großzügig Beifall. In Amerika stehen die Menschen schneller auf, da geht’s nach dem zweiten Auftritt gleich zum Parkplatz (lacht).
Das sagt man auch dem niederländischen Publikum nach …
Canellakis: Da habe ich andere Erfahrungen gemacht. Mein Eröffnungskonzert als Chefdirigentin des Niederländischen Radiosinfonieorchesters war vielleicht auch etwas Besonderes. Ich bin die erste Frau in dieser Position. Alle waren absolut begeistert. Das Orchester war fantastisch. Es gab Standing Ovations und ich bin sechs oder sieben Mal die roten Treppen rauf unter runter gegangen. Danach war ich müde.
Haben Sie aktuell die Möglichkeit, als Geigerin aktiv zu sein?
Canellakis: Momentan muss ich mich auf das Dirigieren fokussieren. Aber ich reise immer mit meiner Geige. Weil ich es so liebe, Geige zu spielen, versuche ich, in Form zu bleiben. Wenn ich aufgefordert werde, im Quartett zu spielen, möchte ich mich nicht eingerostet fühlen. Irgendwann werde ich in Amsterdam Kammermusik-Abende etablieren, mit Wein und Käse, Drinks und Spielen: Wer sich verspielt, muss einen heben – das wird lustig!
Wie kamen Sie denn zum Dirigieren? Haben Sie Simon Rattle gefragt, ob Sie auch mal dürfen?
Canellakis: Oh, nein! So war das nicht. Ich war immer fasziniert vom Dirigieren und von Partituren. Meinen ersten Kurs habe ich mit zwölf Jahren absolviert. Mein Bruder auch, es war so natürlich, weil unser Vater Dirigent ist. Aber in meiner Kindheit wollte ich so sein wie Hilary Hahn, eine Solistin! Dafür habe ich hart gearbeitet. Die Zeit in der Karajan-Akademie hat mich verändert. Ich bin nach Berlin gegangen, ohne genau zu wissen, ob ich in einem Streichquartett spielen oder Konzertmeisterin sein wollte. Dirigenten wie Harnoncourt, Thielemann oder Jansons haben mich inspiriert und ich fing wieder an, Partituren zu studieren. Das wurde Simon zugetragen. Nachdem er mich gehört hatte, wie ich als Erste Geige das Orchester durch Schönbergs „Verklärte Nacht“ führte, sagte er zu mir: Wir müssen reden.
Er hat sie ermutigt, zu dirigieren?
Canellakis: Er hat mich nie zu irgendetwas gedrängt. Er hat mich nur gefragt, was ich will. Wenn du in einem Streichquartett sein möchtest, ist das okay. Wenn du Dirigentin sein willst, dann mach es! Vorher kam es für mich nicht in Frage, Vollzeit-Dirigentin zu sein. Ich weiß auch nicht, warum.
Hat Ihnen doch ein Role Model gefehlt?
Canellakis: Ja, durchaus möglich. Vielleicht dachte ich, ich kann da nicht so, wie ich bin, vorne stehen. Ich hatte Riccardo Mutis breite Schultern vor Augen. Aber ich war auch von David Zinman fasziniert, der eher klein ist. Nach und nach kam ich drauf, dass die Körperlichkeit nicht entscheidend ist. Noch wichtiger aber war Simon Rattle.
Stehen Sie heute noch in Kontakt zu ihm?
Canellakis: Ich kann ihn immer kontaktieren. Wenn ich mir unsicher mit einem neuen Stück bin, funke ich ihn mit einer Textnachricht an. Er schreibt sehr praktische Dinge zurück, beispielsweise wie die Probendisposition aussehen sollte. Ich bin sehr dankbar, ihn als Mentor zu haben. Er hat so viel Erfahrung, weil er das gesamte Repertoire drauf hat. Sein Rat ist unbezahlbar.
Apropos Repertoire: Wofür schlägt ihr Herz?
Canellakis: Ich liebe Beethoven und ich habe sehr klare Vorstellungen darüber, wie seine Musik klingen sollte! Der Klang des Concentus Musicus, das auf alten Instrumenten spielt, hat mich diesbezüglich sehr geprägt. Ich habe es eine Zeit lang stellvertretend für Nikolaus Harnoncourt geleitet, als ein Beethoven-Zyklus auf dem Programm stand. Außerdem bin ich ein leidenschaftlicher Fan von großen Wagner-Opern. Wenn ich mein Lieblingsstück benennen müsste, dann wäre das Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“. Aber dann kann ich es auch wieder kaum erwarten, die Johannes-Passion von Bach zu dirigieren. Und natürlich alle Mahler-Sinfonien.
Sie erwähnten die Gender-Thematik. Gibt es da in Europa einen Unterschied zu Amerika?
Canellakis: Nein, das ist überall das Gleiche. Bei den A-Orchestern gibt es eben wenig Frauen am Pult. Ich hätte nie gedacht, dass ich die erste Frau bin, die das Nobelpreis-Konzert oder die First Night of the Proms dirigiert. Alles, worauf ich mich als Erfahrung gefreut hatte, bekam dadurch eine andere Bedeutung. Erst in meiner Generation wird das etwas selbstverständlicher. Ich kann gar nicht glauben, dass die Tatsache, dass ich eine Frau bin, so überrascht (lacht).
Beeinflusst das wirklich Ihre Arbeit?
Canellakis: Nein. In einer Beziehung mit dem Orchester geht es vielfach nur um Musik. Die Proben müssen in einer guten Atmosphäre stattfinden, die Qualität der Aufführung muss so gut wie möglich sein. Wenn das gelingt, ist das der Grund, warum ich wieder eingeladen werde. Weil das Orchester gerne mit mir gearbeitet hat. Was das angeht, habe ich mir vorgenommen, einfach mit gutem Beispiel voranzugehen.