War Juan Diego Flórez lange Zeit als Belcanto-Interpret weltweit gefragt, hat der peruanisch-österreichische Tenor auf seinen letzten Alben eindrucksvoll gezeigt, wie vielseitig er ist: Er sang Mozart, wagte sich ins Reich des italienischen Schlagers und zollte auf seinem aktuellen Album „Bésame Mucho“ seiner lateinamerikanische Heimat Tribut. Keine Frage: Weiterentwicklungen und Veränderungen fürchtet Flórez nicht.
„Die Stimme eines Tenors liegt zwischen der eines Mannes und der eines Teenagers“, sagt José Carreras. Wo sehen Sie sich heute als Vater zweier Kinder mit Ihren 46 Jahren?
Juan Diego Flórez: Als ich Ende dreißig war, merkte ich, dass sich in meiner Stimme etwas ändert. Die Muskeln altern, aber all diese Veränderungen können gleichzeitig auch eine Chance auf einen neuen, aufregenden Karriereabschnitt sein. Als ich jünger war, war meine Stimme agiler und höher. Mit der Zeit rutschte der Sitz der Stimme immer mehr ins Zentrum der Register, wurde dunkler und breiter. Immer, wenn ich mir alte Interviews anhöre, muss ich lachen. Meine Stimme klang (hebt die Stimme) so hell. Heute spreche ich sehr viel tiefer. Man wird reifer, muss eine neue Mitte finden, die Technik an die Situation der Stimme anpassen.
Also vom Tenore di grazia zum lyrischen Tenor.
Flórez: Ja. Das Zentrum meiner Stimme hat sich gefestigt, so dass ich mehr Farben denn je aufbieten und andere Rollen anpeilen kann.
Derzeit singen Sie viel Verdi.
Flórez: Ja, vor allem in Konzerten. Früher hätte ich einige dieser Arien nie singen können. Jetzt kann ich regelrecht Stimmpfeile abschießen. Man braucht viel innere Energie bei Verdi, weil das Orchester sie ja auch hat. Verdi ist immer entflammt.
Was braucht es für den idealen Verdi-Gesang?
Flórez: Verdi ist Belcanto. Rossini, der große Belcanto-Meister, war sein Vorbild. Da sind das Legato, die hohen Töne, die Pianissimi, das Forte, die Triller, die Kadenzen. Verdi war in seinen Partituren sehr präzise, hat bis hin zu kleinsten Schattierungen alles sehr genau im Notentext fixiert. Aber viele dieser Nuancen und Details in den Notentexten werden in modernen Interpretationen nicht berücksichtigt. Ich versuche all das zu inkludieren, wenn ich Verdi singe, vor allem in den zarten, lyrischen Momenten.
Sie haben ein Haus in Pesaro. Sind Sie Carlo Bergonzi, dem großen Verdi-Tenor des 20. Jahrhunderts, begegnet?
Flórez: Ja, aber schon als älteren Herrn. Bergonzi war ein großer Tenor mit sehr viel Stilgefühl. Im Jahr 2002 ehrte ich in New York Carlo Bergonzi in einer Feier, die für ihn von der Metropolitan Opera Guild veranstaltet wurde.
Ein anderer Großer seines Fachs, Alfredo Kraus, sagte einst: „Die Bühne formt die Künstlerpersönlichkeit, ruiniert aber die Stimme.“
Flórez: Es ist wie beim Sport: Du singst, singst und singst. Waren Sie gestern in meinem Konzert?
Nein.
Flórez: Fünfzig Minuten allein dauerte der erste Teil. Man singt und singt. Natürlich ist man nach einem Konzert müde, aber wenn man eine gute Technik hat, ist das nie ein Problem. Man muss seiner Stimme auch Ruhepausen gönnen. Ich gebe ihr ein Minimum von zwei Tagen Pause zwischen Konzerten. Die Stimme muss aber auch „beschäftigt“ werden, sonst verliert sie ihre Flexibilität. Man muss den Körper singend erhalten, darf sich nicht allzu sehr entspannen.
Kraus war einer der wenigen Sänger, die sich die Stimme bis ins hohe Alter erhalten haben.
Flórez: Ja. Er verbrachte die Sommermonate in seinem Haus in Lanzarote. Er war sehr strikt mit sich selbst.
Junge Sänger werden oft in Rollen gedrängt, denen sie noch nicht gewachsen sind. Wer hat Ihnen geholfen, Fehler zu vermeiden?
Flórez: Ernesto Palacio, ein peruanischer Sänger, der auch an der Scala und an der Met gesungen hatte. Er half mir, die Rollen auszusuchen, mit denen ich mich entwickeln konnte, die aber meine Stimme nicht strapazierten. Noch heute frage ich ihn. Er ist und war immer für mich da. Er sagt mir immer, er hätte als junger Sänger sich auch gerne einen Vertrauten gewünscht. Der Sänger hat eine seltsame Einstellung zu sich selbst.
Wie meinen Sie das?
Flórez: Wir hören uns nur innerlich, denn der Klang, der nach außen dringt, ist ein anderer als der, den wir wahrnehmen. Dann kommen Menschen, besonders wenn wir jung sind, auf uns zu und suggerieren uns, wir seien imstande, diese oder jene Partie zu singen. Wir sind geschmeichelt. Manchmal aber liegen diese Menschen absolut falsch. Als Sänger braucht man unbedingt einen Vertrauten.
Nehmen Sie sich immer noch auf?
Flórez: Ja, und für mich ist es wichtig, weiter zu lernen und Fehler zu korrigieren, die man nur heraushören kann, wenn man sich selbst aufnimmt.
Zuviel der Analyse könnte allerdings auch der Intuition schaden.
Flórez: Ja, das stimmt. Schließlich bewegt man die Stimme nicht nur körperlich, sondern auch mit dem Geist und der Seele. Du denkst, stellst dir emotional etwas vor und singst. Das ist es. Da ich mittlerweile auch unterrichte, kann ich nur sagen: Der beste Schüler ist der, der das Talent entwickelt hat, mit Eingebungen seine Stimme zu führen. Manchmal sage ich zu meinen Schülern: „Sing diese Note etwas höher, denke an dieses Bild und projiziere dies auf den Raum.“ Und er macht es. Einem anderen sage ich das gleiche, und es kommt nichts dabei heraus.
Teilen Sie das Ihren Schülern auch so direkt mit?
Flórez: Das ist schwierig. Manche haben großartige Stimmen, aber werden wohl nie große Sänger werden. Natürlich muss ich ihnen helfen, aber ich habe auch Verantwortung. Dem Schüler soll ja eine lang anhaltende Karriere gelingen.
Ist es für Sie in Ihrer Karriere schwerer oder leichter geworden?
Flórez: Leichter. Ich bin zufriedener geworden, weil ich wählen kann, was ich singe und wann ich es singe. Und ich kann mich um meine Familie kümmern, habe die innere Ruhe gefunden. Obwohl ich immer noch sehr selbstkritisch bin, bin ich jetzt auch entspannter. Wenn mal etwas schiefgeht, ist es nicht das Ende der Welt. Eine Sängerkarriere kann übrigens nur anhalten, wenn man das Singen genießt, wenn man spürt, dass es ein Vergnügen ist.
Als Sie 2018 beim Opus Klassik zum „Sänger des Jahres“ ausgezeichnet wurden und Sie mit der Gitarre den Schlager „Bésame Mucho“ sangen, hatte ich das Gefühl, dass Sie in diesem Moment glücklich sind.
Flórez: So war es. Es ist eben auch die Erinnerung an meine Kindheit in Lima. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Folkloresänger. Bei uns wurde viel gefeiert und getanzt, weshalb ich mit zehn Jahren auch Gitarre spielen lernte – allerdings Popmusik und Schlager. Ich hätte auch ein Popsänger werden können, weil Oper nicht Teil meines Alltags war. Erst später entdeckte ich sie am Konservatorium.
Vor zehn Jahren fragte ich Sie, wo Sie sich in zehn Jahren sehen. Und Sie antworteten: als Komponist.
Flórez: Ach, leider komme ich nicht dazu, bei meiner Arbeit und meinen zwei kleinen Kindern. Manche früheren Stücke von mir wurden von dem Orchester aufgeführt, das wir in Peru zusammengestellt haben.
Sie sprechen Ihr Sozialprojekt „Sinfonía por el Perú“ an.
Flórez: Nach dem Vorbild von Venezuelas El Sistema wollte ich auch armen Kindern dort eine Chance geben, ihr Leben zu verbessern. Fast 10.000 Kinder sind jetzt dabei. Das Jugendorchester und der Chor von „Sinfonía por el Perú“ war 2019 in Luzern und Salzburg, und in diesem Jahr werden sie auf der Expo in Dubai auftreten. Der Motor dieser Kinder ist ihre Armut. Sie lernen so schnell, weil Musik und ihre Instrumente alles sind, was sie haben. Somit kann ich auch wieder etwas zurückzugeben.