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Interview John Lundgren

„Jeder bad guy hat seine Geschichte“

Bevor sich John Lundgren, der meisterhafte Darsteller böser Charaktere, der Sangeskunst zuwandte, leitete er ein Heim für schwer erziehbare Kinder.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Nein, Deutsch spreche er leider nicht, obwohl John Lundgren in Bayreuth als gefeierter Wotan und Holländer auftrat. In diesem Jahr ist er auf dem Grünen Hügel als Alberich zu erleben. Was den schwedischen Opernsänger aber vom machtversessenen, der Liebe entsagenden Gnom unterscheidet, ist seine außerordentliche Warmherzigkeit, wie sich im Interview schnell zeigen sollte.

Wie wuchsen Sie auf?

John Lundgren: Ich wuchs in einem kleinen Kaff zwischen Göteborg und Stockholm auf – alles sehr klein und sehr beschaulich. Ein wunderschöner Ort, aber kein Ort für klassische Musik. Es gab nur Countrymusik, eine Tanzkapelle und die 6. Liga im Fußball. Mein Vater war Ingenieur und in der Energiewirtschaft beschäftigt. Meine Mutter war Krankenschwester.

Was wollten Sie als Kind einmal werden?

Lundgren: Alle wollten auf der Schule Fußballspieler werden. Ich aber wollte Grabredner werden …

Wie bitte?

Lundgren: Ja. Ich war zehn. Ich wollte das wirklich werden: einer, der am Grab die Reden hält. Ich liebte als Kind diese ernste, ruhige Stille, die sich auftut, wenn Menschen weinen, sehr ernster Stimmung sind. Jedes Wort wirkte sehr direkt, sehr wahrhaftig. Eine Energie ging von diesen trauernden Menschen aus, die mich zutiefst beeindruckte. Theologe oder Arzt aber wollte ich nicht werden. Ich wollte die Menschen trösten, für sie da sein.

Weshalb Sie zunächst auch Sozialpädagoge wurden?

Lundgren: Ja. Ich habe dreieinhalb Jahre die Ausbildung gemacht, mit einem Jahr Praxis in einem Sozialbüro, das Leuten half, die kein Geld hatten oder sich keinen Arzt leisten konnten. Wir kümmerten uns auch um Kinder, die aus den Familien genommen werden mussten, weil die Eltern süchtig, gewalttätig und überfordert waren. Mit 24 Jahren übernahm ich dann die Leitung eines Heimes für schwer erziehbare Jungen. Die Leute, mit denen ich zu tun hatte, waren kriminell, nahmen Drogen, hatten Beziehungs­probleme. Wir hatten etwa sechs oder sieben Jugendliche zu betreuen, alle sehr gewalttätig, sehr verwahrlost, junge Menschen, die wirklich jemanden brauchten, der sie in dieser Gewaltspirale stoppte. Das war eine sehr heftige Zeit, eine Schule für das Leben.

Erzählen Sie!

Lundgren: Als Reserveoffizier der schwedischen Armee war ich körperlich gut dafür gewappnet für solche Arbeit. Die machen ja meistens Frauen, und irgendwie waren sie froh, einen Mann zu haben, der sie unterstützte. Denn die jungen Männer haben oft keine gute Meinung über die Frauen, ihre Mütter haben sie oft nicht beschützt vor ihren gewalttätigen Vätern.

Doch irgendwann stießen selbst Sie an Ihre Grenzen.

Lundgren: Ja, absolut. Meine Arbeit mit den Jugendlichen in dem Heim und ihre kriminellen Geschichten gingen mir sehr nahe. Ich bewundere immer noch jeden, der diese so wichtige Arbeit macht. Doch ich konnte nicht mehr. Ich beschloss meine Stimme weiter auszubilden.

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John Lundgren
John Lundgren

Wie haben Sie diese entdeckt?

Lundgren: Bereits auf der Schule mit etwa sechzehn Jahren hatte ich das Singen entdeckt, spielte Klavier und auch Trompete, legte LPs mit allerlei Musik auf und sang alles nach – Country­musik, Songs, Oper. Ich folgte einfach der Stimme, ohne Partitur, rein nach Gehör. Ein Lehrer an der Schule bot mir dann Unterricht an, eine halbe Stunde pro Woche. Irgendwann legte er Leporellos Registerarie auf. Ich sagte ihm, dass ich kein Italienisch und somit auch keine Oper singen könne. Er ermunterte mich. Er hörte etwas aus meiner Stimme heraus, das wirklich nützlich zu sein schien. An der Schule trat ich nun in Musicals auf. Später, nachdem ich die Arbeit im Heim aufgegeben hatte, besuchte ich eine Gesangsschule in Vadstenna, eine Art Vorbereitungsschule für angehende Gesangsstudenten. Ich arbeitete unglaublich hart, konnte nach nicht einmal zwei Jahren zwischen den Opern­akademien in Kopenhagen, Göteborg und Stockholm auswählen und hatte auf einmal einen Vertrag für die Oper in Kopenhagen in der Tasche. Plötzlich merkte ich, wie schön es ist, Komponisten zu entdecken und nicht ständig zu kämpfen und mich im Wrestling zu üben.

Auf der Bühne entdeckte man Sie als bad guy der Oper. Sie sangen die Rolle des intriganten Mörders Scarpia in Puccinis „Tosca“ und Beethovens mächtigen Gouverneurs Don Pizarro. Wo liegt der Unterschied zwischen dem Schurken auf der Bühne und dem im realen Leben?

Lundgren: Jeder bad guy hat seine Geschichte, in der Oper wie im Leben. Es gibt immer einen Grund, weshalb man so oder so handelt. In meiner Arbeit als Sozialpädagoge sammelte ich viele Erfahrungen, die ich jetzt nutzen kann. Ich war in Situationen, wo Menschen mich umbringen wollten. Auf der Bühne ist das natürlich viel harmloser – zumindest in der Konsequenz. Aber es ist die gleiche Wut, der gleiche Hass, den man im Inneren aufbauen können muss, um die Rolle wahrhaftig gestalten zu können.

Sind Sie denn als Sozialpädagoge einmal in eine wirklich gefährliche Situation geraten?

Lundgren: Ja. Ich musste einen Jungen stoppen. Daraufhin schlug er mich und packte mich an der Kehle. Gott sei Dank kamen Kollegen dazu, warfen ihn zu Boden und steckten ihn für 24 Stunden in eine Isolationszelle. Danach ging ich zu ihm. Ich sagte ihm, dass er Grenzen überschritten habe, dass er mir einfach nicht in mein Gesicht fassen durfte. Er schaute mich an und sagte ganz seelenruhig: „Ich habe dir nicht in dein Gesicht gefasst, ich habe deine Kehle zugedrückt“. Ich habe lange gebraucht, um zu realisieren, dass ich vor einem Menschen stand, der mich töten wollte. Obwohl ich ihm nichts getan hatte. Da verstand ich, dass ich dort mein Leben nicht verbringen wollte. Ich bewundere Menschen, die in dieser Atmosphäre arbeiten können, diese Jungs brauchen wirklich Menschen, die ihnen Grenzen aufzeigen. Nur ich konnte es nicht mehr.

Heute bewegen Sie sich in der mitunter oberflächlich-glamourösen Welt der Oper, der roten Teppiche. Wenn Sie die mit der Straße vergleichen müssten …

Lundgren: … würde ich gar keinen so großen Unterschied sehen. Denn ich bleibe der Mensch, der ich bin. Ich wollte nie auf roten Teppichen stehen, ich wollte nur singen. Das ist ein Grundbedürfnis von mir. Ich sehe mich als musikalischen Storyteller, als ein Chamäleon, das in Rollen schlüpft. Es muss dabei nicht immer dunkel und düster zugehen, ich liebe es auch, über den Sonnenschein und über die Liebe zu singen. Mein wichtigstes Konzert aber hatte ich an einem Ort, den Sie sich vielleicht nicht vorstellen können.

Welchen?

Lundgren: Es war noch in diesem Heim. Da gab es einen kolumbianischen Jungen. Um elf Uhr abends, wenn alle zu Bett gingen, fing er an zu randalieren und wollte einfach nicht zu Bett. Irgendwann erfuhr er, dass ich singen konnte. „Könntest du für mich singen?“, fragte er mich. Und ich dachte mir, er wolle jetzt Heavy Metal hören. Ich sagte ihm, ich könnte nur Country-Songs anbieten und wollte eigentlich nicht. „No, no!“, sagte er. Und befahl: „Du singst für mich heute Nacht!“ Das war wirklich ein Befehl und keine Bitte. Wir machten einen Deal: Wenn ich zwei Lieder singe, dann schläft er ein. Niemand glaubte, dass er sich daran halten würde.

Wie ging alles aus?

Lundgren: Ich sang für ihn. Danach sagte er, ich könne das Licht ausmachen. Und er schlief ein wie ein kleines Kind, die ganze Nacht durch. Am nächsten Tag wollte er wieder, dass ich für ihn singe. Und dann kam ein anderer Junge und wollte das auch. Es war sehr berührend. Als ich mich dann dazu entschied, die Arbeit aufzugeben, war dies ja riskant, weil die Jungens dachten, dass ich sie verlasse. Der kolumbianische Junge schrieb mir einen traurigen Brief und sagte mir, dass niemand mehr so schön für ihn singen wird wie ich. Er bedankte sich und wünschte mir alles Gute. Das war für mich sehr ergreifend.

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