Startseite » Interviews » „Man muss sich das Staunen bewahren“

Jörg Widmann im Interview

„Man muss sich das Staunen bewahren“

Der Komponist, Klarinettist und Dirigent Jörg Widmann über nächtliches Arbeiten, Abgabedruck – und über seine Faszination für Labyrinthe.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Als Composer in Residence der Berliner Philharmoniker ist Jörg Widmann in dieser Spielzeit häufig in der Hauptstadt zu erleben. In diesem Monat tritt er zudem als Interpret und Komponist von Kammermusik in Erscheinung. Zudem ist er für drei Jahre Erster Gastdirigent der NDR Radiophilharmonie und obendrein Creative Partner mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern. Es läuft also für den gebürtigen Münchner, der im Sommer fünfzig Jahre alt geworden ist. Die Uraufführung, von der später die Rede sein wird, wurde übrigens ein voller Erfog.

„Mit 25 Jahren kann jeder Talent haben. Mit 50 Jahren Talent zu haben, darauf kommt es an“, sagte Edgar Degas.

Jörg Widmann: Schlimmer ist, was Strawinsky über Mendelssohn sagt: „Er begann als Genie und endete als Talent.“ Ein bitterböser Satz, dem ich vehement widersprechen muss.

Mit Ihnen wäre Degas zufrieden: Sie haben ein dreifaches Talent als Komponist, Klarinettist und Dirigent, führten unlängst Mendelssohns „Reformations-Sinfonie“ mit den Berliner Philharmonikern auf. Strawinsky soll übrigens ein lausiger Dirigent seiner Werke gewesen sein.

Widmann: So wird es kolportiert. Als 2008 Mariss Jansons meine Konzert­ouvertüre „Con brio“ uraufführte, sagte er mir: „Sie müssen die erste Probe dirigieren.“ Ich antwortete ihm, ein komplexes Stück zu schreiben und es zu dirigieren, seien zwei verschiedene Dinge. Er aber: „Ich brauche Ihre Hilfe!“ Im Nachtzug nach München habe ich meine eigene Partitur für die Aufführung eingerichtet, obwohl ich keine Erfahrung hatte. Als ich vor dem Symphonieorchester des BR stand, mit dem ich oft als Klarinettist konzertiert hatte, sagte ich: „Bitte helfen Sie mir.“ Zwei Minuten lang war ich sehr nervös, doch dann hat es richtig Spaß gemacht. Für uns alle war es eine legendäre Probe. Doch noch mal zu Ihrer Frage nach dem …

… Talent.

Widmann: Man muss sich das Staunen bewahren, die kindliche Freude. Manchmal brauche auch ich eine Pause, weil ich völlig erschöpft bin, aber dann geht es wieder los. Stets von Null aus.

An welcher Komposition arbeiten Sie derzeit?

Widmann: Gerade sitze ich an einer Instrumentation von Robert Schumanns „Dichterliebe“ nach ­Gedichten von Heine für Matthias Goerne.

Werden Sie es bis zur Uraufführung am 4. Oktober rechtzeitig schaffen? Beim letzten Gespräch sagten Sie mir, dass Sie nicht mehr nachts und auf den letzten Drücker arbeiten wollten.

Widmann: Früher hat mich dieser Kick gereizt: Kriege ich das noch irgendwie hin bis zu dem Termin? Heute nicht mehr. Ich habe meinen Lebensstil völlig verändert und erkenne mich kaum wieder. Heute fange ich in den frühen Stunden an. Früher habe ich nicht vor Mitternacht begonnen. Psychisch und physisch ist das besser.

Das Labyrinth ist zu einem wichtigen Thema in Ihrem Œuvre geworden, das Sie inzwischen in sieben Stücken musikalisch verarbeitet haben. Können Sie die Weggabelungen beschreiben, die damit einhergehen?

Widmann: Das Labyrinth ist eine schöne Metapher für die Kunst und für das Leben. Entscheidungen innerhalb eines Stückes zu treffen, fällt mir schwer. Ich bin immer noch auf der Suche. Mein Problem ist allerdings nicht, händeringend auf eine Idee zu warten. Mein Problem war immer, dass ich zu viele Ideen habe. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es sich bei der nächsten Komposition wieder wie ein Labyrinth anfühlen wird.

Jörg Widmann hat das Komponieren auf den Tag verlegt
Jörg Widmann hat das Komponieren auf den Tag verlegt

„Kill your darlings“, soll William Faulkner gesagt haben.

Widmann: „Töte deine Lieblingsideen“, aber nur, um sie noch besser und schöner zu machen. Oft fühlt sich bereits die zweite Note falsch an. Man hadert über Monate hinweg mit der Ursprungsidee, aber irgendwann gibt es den „Point of no return“, und dann verlasse ich den Schreibtisch nicht mehr. Ich habe fast nie das Stück geschrieben, das ich ursprünglich schreiben wollte. Einen Startpunkt zu finden war immer meine künstlerische Herausforderung. Dann suche ich nach Formen. Wenn man eine Form gefunden hat, hat man eine sehr viel größere Freiheit. Auch lerne ich mittlerweile, meine Kräfte zu dosieren. ­Irgendwann freut man sich als Instrumentalist und Dirigent, wenn man auch den Schluss des letzten Satzes noch kontrolliert gestalten und die ­Architektur zu Ende und zu voller Blüte führen kann.

Aber dennoch haben Sie eine Neigung zur Obsession.

Widmann: Ja. Ich dachte mir, wenn ich nicht alles gebe, mich nicht verausgabe und verschleudere, dann verliere ich an Spontaneität. Im Umkehrschluss heißt das, dass das, was man gibt, einem nicht genug ist. Dies ist ein Privileg der Jugend. Heute denke ich, dass die Komposition mehr Tiefe bekommt, wenn ich mich an strenge Formen wage, und arbeite mehr an der kontrapunktischen Faktur. Als ich jung war, konnte ich mit dem Komponieren von Fugen nichts anfangen. Mittlerweile habe ich Rätselkanons, eine Messe und viele andere kontrapunktische Werke geschrieben und ein regelrechtes Vergnügen daran entwickelt. Es ist, als ob die Lust am Verschleudern jetzt anders kanalisiert wird.

Das Labyrinth stellt ja nicht die Frage: Geht man falsch oder richtig? Das Labyrinth stellt die Frage: Geht man?

Widmann: Der Weg entsteht im Gehen. Es gibt von Dürrenmatt phantastische Zeichnungen zu seiner Ballade, wo sich der Minotaurus in einem Spiegellabyrinth befindet. Halb Mensch, halb Tier, eine Monstrosität. Bei Dürrenmatt wird er vom menschenfressenden Ungeheuer zum Opfer undurchschaubarer Umstände und zum Sinnbild der Orientierungslosigkeit. Das Labyrinth von Dürrenmatt lässt mich nicht los. Ich trage mich mit dem Gedanken, daraus ein Tanztheater zu machen.

Schon mit acht Jahren erhielt Jörg Widmann ersten Kompositionsunterricht
Schon mit acht Jahren erhielt Jörg Widmann ersten Kompositionsunterricht

Jorge Luis Borges, der sich ebenfalls literarisch eingehend mit dem Minotaurus beschäftigte, sagt: „Ein Mann stellt sich der Aufgabe, die Welt darzustellen. Kurz vor seinem Tod entdeckt er, dass dieses geduldige Linienlabyrinth eine Zeichnung seines eigenen Gesichts ist.“

Widmann: Wahnsinn! Dem ist einfach nichts hinzuzufügen. Und schön, dass Sie den Autor zitieren, der mich für das Labyrinth inspiriert hat. Borges nennt den Minotaurus nie beim Namen, er nennt ihn „Asterion“. Borges’ Labyrinthe sind ewig lichtdurchflutete Hallen. Es hat etwas Schönes und nicht immer etwas Fatales, wenn man woanders herauskommt. Jedes meiner Labyrinthe klingt anders, von der Höllenqual eines „Tartaros“ bis hin zu ­„Towards Paradise“, meinem Trompetenkonzert.

„Wie komme ich jemals aus diesem Labyrinth heraus!“, stöhnte Gabriel Garcia Márquez.

Widmann: Nur durchs Komponieren, Spielen oder Dirigieren eines anderen Werkes. Ich möchte nicht ewig im Labyrinth verweilen. Unlängst habe ich für das Lucerne Festival eine Musik für den Bühnenabschied eines befreundeten Bratschisten geschrieben, „The Last Rose of Summer“. Ich war erschüttert, weil es in der Probe genauso klang, wie ich es mir vorgestellt habe. Das hat mich fast schon verunsichert, denn wer sich auf den Weg ins Labyrinth macht, der nimmt in Kauf, nicht dort anzukommen, wie er es geplant hat. Vielleicht werde ich Ihnen beim nächsten Treffen sagen, dass das Labyrinth nicht mehr die richtige Form für mich ist. Ich würde mich freuen, wenn es mehr ins Offene gehen ­würde.

In „Les Fleurs du mal“ setzt Baudelaire den Künstler mit Ikarus gleich.

Widmann: Wir sind wie kleine Kinder, die den Rat des Vaters, „flieg nicht zu hoch, da ist die Sonne, flieg nicht zu tief, da ist das Meer“, nicht ernst nehmen. Deshalb sind wir gefährdet. In der Mitte zu fliegen, ist langweilig. Ich liebe als Künstler das Risiko und die Überraschung. Goethe sagt es: „Wenn dir’s in Kopf und Herzen schwirrt, was willst du Bessres haben! Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich ­begraben.“

Finden Sie in unserem Klassikkalender Aufführungstermine mit Werken von Jörg Widmann.

CD-Tipp

Album Cover für Widmann & Mozart: Klarinettenquintette

Widmann & Mozart: Klarinettenquintette

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!