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Interview Jan Lisiecki

„Die Musik lebt immer in meinem Kopf“

Pianist Jan Lisiecki über mentale Konzertvorbereitung, Bilder im Kopf beim Klavierspielen und sein neues Chopin-Album.

vonAndré Sperber,

Herr Lisiecki, Sie sind kein Newcomer mehr, sondern haben sich bereits fest in der Klassikwelt etabliert. Wofür steht der Pianist Jan Lisiecki?

Lisiecki: Es ist sehr schwer für mich, das zu beurteilen, weil ich gar nicht darüber nachdenke. Ich versuche nicht aktiv, mich von meinen Kollegen abzugrenzen, denn wir alle haben etwas zu sagen. Ich versuche einfach, mir selbst treu zu bleiben und auf der Bühne so zu sein, wie ich bin. Ich tue nur Dinge, an die ich glaube, die mir Spaß machen und das versuche ich auch durch die Musik auszudrücken, die ich spiele.

Haben Sie Vorbilder?

Lisiecki: Das ist eine knifflige Frage. Ich denke, es gibt einen Unterschied zwischen Vorbild und Inspiration. Ein Vorbild ist für mich eine Person, die man nachahmen möchte. Und ich wollte nie nachahmen. Inspiration dagegen ist, dass man etwas sieht oder hört, und man denkt sich gleich, ich möchte es besser oder anders machen. Es gibt viele inspirierende Menschen in meinem Leben. Sie alle spielen eine gewisse Rolle für mich, aber sie sind keine Vorbilder in dem Sinne.

Sie sind praktisch damit aufgewachsen, Konzerte zu geben. Sind Sie trotzdem noch nervös vor einem Auftritt?

Lisiecki: Ja und nein. Natürlich gibt es eine gewisse Grundnervosität. Man trägt eine Verantwortung den Zuschauern gegenüber, man will sie mitnehmen und ihnen einen besonderen Abend bieten. Das ist ja das, was ein Konzert ausmacht, und um das zu erreichen, muss man im richtigen Moment zu hundert Prozent präsent sein. Aber ich bin nicht nervös im Sinne von ‚Oh mein Gott, ich werde sterben und es ist so schrecklich‘. Dazu habe ich auch keinen Grund. Ich muss niemandem das Leben retten, ich bin kein Politiker oder Richter – es geht ja letztlich nur darum, dass ich mich selbst auf der Bühne darstelle, und der einzige, dem ich im Zweifel schaden könnte, bin ich selbst. Insofern ist mein Leben recht entspannt, andere haben es da deutlich schwerer.

Haben Sie dennoch bestimmte Rituale, die Sie vor einem Konzert durchgehen?

Lisiecki: Es gibt ein paar Dinge an einem Konzerttag, die ich anders mache. Ich versuche, nicht zu viel über verschiedene Dinge nachzudenken, nicht ans Telefon zu gehen oder E-Mails zu beantworten und alles Alltägliche etwas zu dämpfen. Man muss sich seine Energie gut einteilen, denn kein normaler Mensch ist abends um 20 Uhr in geistiger Hochform. Ein gewisser Fokus und diese Ruhe, bevor man auf die Bühne geht, sind natürlich sehr wichtig. Aber Rituale sind dazu da, um gebrochen zu werden. Vor allem, wenn man viel unterwegs ist, kann man als Musiker kein komplexes Ritual haben. Jeder Tag ist anders und ich glaube, dass man sich nur selbst enttäuscht, wenn man eine absolut feste Routine hat.

Werke wie Beethovens Klavierkonzerte kennen Sie sicher in- und auswendig. Spielen Sie solche Stücke im Konzert einfach aus dem Stegreif oder bereiten Sie sich jedes Mal wieder neu darauf vor?

Lisiecki: Natürlich könnte ich sie aus dem Stegreif spielen. Aber ich nehme mir gerne die Zeit, es zu durchdenken und einen frischen Blick darauf zu werfen. Diese zusätzliche Vorbereitung ist es, was die Aufführung dann besonders macht. Wenn ich auf einer Tournee zehn Mal dasselbe Konzert spiele, übe ich trotzdem vor jedem Konzert. Nicht weil ich nervös bin, nicht weil ich muss, sondern weil ich jedes Mal weiß, was ich noch anders machen will, um das zusätzliche Prozent hinzu zu geben.

Was hat Sie dazu gebracht, ein weiteres Chopin-Album aufzunehmen?

Lisiecki: Ich hatte schon immer den Wunsch, Chopins komplette Nocturnes aufzunehmen. Aber das braucht viel Vorbereitungszeit. Während der Pandemie ergab sich dann die Gelegenheit. Chopins Musik stehe ich natürlich sehr nahe. Alle seine Kompositionen für das Klavier sind unglaublich, aber die Nocturnes sind magisch. Und sehr schwierig, denn sie erfordern viel Gefühl. Sie sind emotionale Bilder und beim Spielen geht es nicht um technische Herausforderungen, sondern darum, diese Bilder heraufzubeschwören.

Jan Lisiecki
Jan Lisiecki

Es gibt schon so viele Einspielungen von Chopins Nocturnes. Wie schaffen Sie es, da noch etwas Neues draus zu machen?

Lisiecki: Indem ich mir die Aufnahmen, die es schon gibt, nicht anhöre (lacht). Ich versuche gar nicht, etwas anders zu machen. Es ist manchmal lustig, wenn Leute meine Interpretationen mit Aufnahmen vergleichen, die ich noch nie gehört habe. Es liegt letztlich an denjenigen, die zuhören, zu entscheiden, ob es ihnen gefällt.

Welche Bilder gehen Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Nocturnes spielen?

Lisiecki: Es ist eher wie eine Farbe oder ein Farbspektrum. Ich denke, jede Nocturne hat ihre eigene Sphäre, eine Art individuelle Welt. Allerdings ist es für jede Nocturne ihre ganz eigene, denn es sind emotional sehr unterschiedliche Stücke. Das ist auch die besondere Herausforderung bei der Aufnahme, diese Unterschiede deutlich zu machen.

Sie schließen beim Spielen häufig die Augen …

Lisiecki: Oft liebe ich es einfach, die Musik mit geschlossenen Augen zu gestalten und diese Welten zu erschaffen. Es ist natürlich auch eine bekannte Tatsache, dass man dann besser hört. Aber das ist für mich nicht wirklich wichtig. Ich schauspielere nicht, wenn ich es tue. Bei manchen Konzerten bin ich auch komplett hellwach, mit offenen Augen. Bei anderen ist es, als ob ich gar nicht da wäre. Das ist nichts, was ich mir aussuche oder kontrolliere, es ist einfach das, was sich in dem Moment richtig anfühlt.

Ihr Repertoire ist recht traditionell. Haben Sie schon mal daran gedacht, zeitgenössische Musik zu spielen?

Lisiecki: Darüber nachgedacht? Ja. Getan? Noch nicht. Aber ich bin erst 26. Ich habe noch viel Zeit. Ich habe keinerlei Hemmungen, eine andere Richtung einzuschlagen. Aber ich fühle auch keinen Druck, es zu tun.

Haben Sie sich schon mal am Komponieren versucht?

Lisiecki: Natürlich habe ich als Student regelmäßig komponiert, aber ich fühlte mich einfach viel stärker in der Interpretation verankert. Ich glaube nicht, dass ich jemals den Genies, die vor mir kamen, gerecht werden könnte. Ich war zwar durchaus fähig, aber es ist das Interpretieren, mit dem ich mich am ehesten heimisch fühle.

Welche Rolle spielt die Musik für Sie außerhalb der Bühne?

Lisiecki: Die Musik lebt immer in meinem Kopf. In jedem Moment, ob ich hier sitze oder versuche zu schlafen. Manchmal unterbewusster, manchmal präsenter. Ich könnte mir deshalb nie vorstellen, mit Kopfhörern herumzulaufen und meinen Kopf mit noch mehr Musik zu füllen. Grundsätzlich höre ich sie aber gerne, zum Beispiel im Radio und bin da auch sehr offen. Ich höre auch gerne Jazz und klassischen Rock, zum Beispiel Pink Floyd, Queen und so weiter. Aber es gibt selten Momente, in denen ich tatsächlich aktiv Musik hören möchte. Mein Problem beim Hören von Klassik ist, dass es mich nicht entspannt, weil ich sofort über das Stück nachdenke und es analysiere. Ich hoffe aber, dass meine Konzerte für das Publikum ein überwiegend entspannendes Erlebnis sind.

CD-Tipp

Album Cover für Chopin: Complete Nocturnes

Chopin: Complete Nocturnes

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