Ein Video-Interview mit einem Sänger zu führen, der keine 48 Stunden zuvor eine seiner bislang wichtigsten Premieren gegeben hat, kann schwierig sein: zu ausgelaugt, zu verkatert, zu wortkarg mag sich da mancher Gesprächspartner geben. Bei Jakub Józef Orliński war es mitnichten so: Ein hellwacher, beredter, ernsthafter und zugleich humorvoller Künstler erscheint da am Computerbildschirm. Schnell wird auch klar: Das Image des bunten Vogels, das man dem Countertenor, Breakdancer, Social Media-Star und Haut Couture-Model in den letzten Jahren übergestülpt hat, stimmt so nicht.
Herr Orliński, vor zwei Tagen hatten Sie Premiere in Matthew Aucoins „Eurydice“. Wie war’s?
Jakub Józef Orliński: Großartig! Wir hatten fünf Wochen Vorbereitungszeit. Das klingt erst mal nach sehr viel, aber die Musik ist sehr schwierig – für die Aufführenden. Für die Zuhörer ist das Stück sehr verständlich, sehr eingängig. Als ich zum ersten Mal in die Noten geschaut habe, dachte ich mir: Das willst du jetzt ernsthaft durchziehen? Aber schon bei den ersten Proben war ich total vereinnahmt von dem Stück. Außerdem konnte ich mich endlich mal direkt mit dem Komponisten austauschen, was bei Vivaldi oder Bach aus naheliegenden Gründen nicht möglich ist.
Was genau ist denn so schwer an der Partie? Erfahrung mit zeitgenössischer Musik haben Sie ja.
Orliński: Wobei ich meine Erfahrungen vor allem bei kürzeren Stücken gemacht habe, „Eurydice“ ist erst meine zweite zeitgenössische Oper. Für mich persönlich liegt die Schwierigkeit in der Tatsache, dass jeder lebende Komponist seine eigene, ich sag mal: Melodiesprache hat, die einzigartig ist und die sich sehr stark von den Melodiesprachen aller anderen Komponisten unterscheidet. Eine weitere Schwierigkeit, die bei praktisch allen zeitgenössischen Werken auftritt, sind die komplizierten Rhythmen. Die muss man regelrecht decodieren. Dafür hat dann jeder Sänger seine eigene Methode. Ich zum Beispiel arbeite immer mit Farbstiften.
Und welche Farbe steht dann wofür?
Orliński: Rot ist eigentlich für die Ornamentik gedacht, aber bei zeitgenössischer Musik ist diese Farbe für die Aussprache reserviert. Blau ist für Akzente und Übersetzungen, Grün für die Atmung, mit gelber Farbe markiere ich meine Gesangsparts und so weiter. Ich habe ein sehr grafisches Denken. Wenn Sie mich zum Beispiel fragen, wann mein erster Einsatz kommt, dann sage ich Ihnen: Seite 16 links oben nach ein paar Noten. Daher auch mein Faible für farbige Eintragungen, das hilft beim Auswendiglernen.
Klingt nach einem wissenschaftlichen Zugang.
Orliński: Wie Bach schon sagte: Es ist Mathematik (lacht). Im Ernst: Man muss sich Musik tatsächlich erst einmal erarbeiten, und da habe ich einen sehr technischen Zugang, ja. Jede Phrase, jedes Wort, jede einzelne Note nehme ich genauestens unter die Lupe. Dadurch habe ich aber am Ende das nötige Wissen und Selbstbewusstsein. Dann kann ich auf die Bühne gehen und sagen: Ich habe meine Arbeit getan, jetzt will ich Spaß haben und Kunst machen.
Wovon sich die Leute auf der ganzen Welt ein Bild machen können, denn „Eurydice“ wird in internationale Kinos ausgestrahlt.
Orliński: Wofür diese Produktion übrigens perfekt geeignet ist, weil sie auch vom Visuellen her unglaublich stark ist – die Lichtshow, die Kostüme, die Bühne … Ein Fest fürs Auge! Auch von der Dauer her ist die Oper mit ihren etwas mehr als zwei Stunden ideal fürs Kino.
Gucken Sie sich denn die Produktion an?
Orliński: Die Aufführung wird live übertragen, so dass es eigentlich nicht möglich sein wird. Aber meine Kollegen und ich haben gesehen, dass es in einem New Yorker Kino noch eine Spätvorstellung als Aufzeichnung gibt, zu der wir geschlossen hingehen könnten. Das wäre schon lustig!
Es ist ja das Problem der allermeisten Mitarbeiter einer Opernproduktion: Sie können nie das komplette Kunstwerk sehen, weil sie permanent Teil davon sind.
Orliński: Trotzdem versuche ich, zumindest Ausschnitte von Produktionen zu sehen, an denen ich mitwirke. Viele deutsche Opernhäuser fertigen Filmmaterial für ihre Archive an. Solche Aufnahmen finde ich total spannend – natürlich nicht in dem Sinne, dass ich mich nach getaner Arbeit aufs Sofa setze und mir beim Singen zusehe. Aber nehmen wir zum Beispiel die Ornamentik beim Barockgesang: Da kann ich aus der Perspektive des Betrachters kontrollieren, was gut und was weniger gut wirkt.
Die Premiere von „Eurydice“ war zugleich auch Ihr Debüt an der Met, wovon vermutlich jeder Sänger träumt.
Orliński: Es ist total verrückt! Derzeit lebt man ja als Musiker permanent mit der Unsicherheit, ob die ersehnte Premiere – oder in diesem Fall das ersehnte Debüt – überhaupt stattfinden kann. Tatsächlich wurden auch viele Produktionen gecancelt, auf die ich mich total gefreut habe. Da legt man irgendwann die Attitüde an: Was passiert, passiert. Am Tag der Premiere kam ich im Theater an, ich ging in die Künstlergarderobe, und irgendwann wurde mir klar: Diese Vorstellung wird tatsächlich stattfinden! Ich habe nie daran gedacht, jemals auf der Bühne der Met zu stehen, und in wenigen Stunden wird es so sein.
Sie haben nie daran gedacht? Das glaube ich nicht: Sie haben doch quasi im Nachbarhaus an der Juilliard School studiert!
Orliński: Nein, ich habe nie daran gedacht! In Amerika gibt es fünf große und prestigeträchtige Opernhäuser. In diesen Kreis reinzukommen ist nahezu unmöglich, für Countertenöre allemal. Aber es hat tatsächlich geklappt, und das auch noch unter idealen Bedingungen: Die Rolle war nicht klein und nicht zu groß, der Part hat super zu meiner Stimme gepasst, und vor allem hat alles einfach unglaublich viel Spaß gemacht.
Wie kamen Sie denn in den erlauchten Kreis, den Sie eben erwähnten?
Orliński: Das hat mit mehreren Faktoren zu tun, die einander ergänzt haben: Es reicht natürlich nicht, nur den Gesangswettbewerb der Metropolitan Opera zu gewinnen, den ich 2016 gewonnen habe. Aber die entsprechenden Leute haben mich da schon mal kennengelernt. Danach hatte ich erfolgreiche Jahre in Europa, mein erstes Album kam in der Öffentlichkeit sehr gut an, und bei all dem wird man natürlich ständig beobachtet, beispielsweise von einer Bayerischen Staatsoper in München oder von Covent Garden in London oder eben von der Met. Wobei ich als Sänger keine andere Wahl habe als mein Ding durchzuziehen, denn woher soll ich wissen, worauf all die Scouts der Opernhäuser achten?
Die Oper ist aber nur ein Teil Ihrer Karriere. Auf Ihrem Debütalbum „Anima Sacra“ und auch auf Ihrem aktuellen Album „Anima Aeterna“ vereinen Sie Sakralmusik. Über die haben Sie mal gesagt, sie sei eine Reise in die eigene Seele. Kann man das nicht auch über die Oper sagen?
Orliński: Ich habe das damals so gesagt, weil viele Menschen sakrale Musik für religiös halten.
Das ist sie ja auch.
Orliński: Natürlich ist sie das. Und auch nicht: Viele Menschen sind nicht gläubig und können dennoch nicht nur einen emotionalen, sondern auch einen tiefergehenden, womöglich auch spirituellen Zugang zu dieser Musik haben. Den möchte ich den Menschen mit meinen Interpretationen ermöglichen, und zwar unabhängig von Religiosität. Viele meinen ja, dass diese Musik in die Kirchen gehört, aber das sehe ich überhaupt nicht so. In diesen Kompositionen steckt doch so viel mehr! Für die Komponisten der Barockzeit war die Kirche vor allem ein Auftraggeber, der gut gezahlt hat. Damals haben sie schon in einem opernhaften Stil komponiert, sehr emotional und arios. Um also auf Ihre Frage nach der Oper zurückzukommen: Natürlich ist auch sie eine Reise in die Seele, keine Frage, aber gleichzeitig ist die Oper auch in vielerlei Hinsicht ein Spektakel. Das haben wir alle ja schmerzhaft gespürt, als wir keine Oper mehr besuchen konnten.
Gehen Sie oft in die Oper oder ins Konzert?
Orliński: Vor zwei Tagen war ich in „Porgy & Bess“ an der Met. Der ganze Cast war großartig, aber Angel Blue: Meine Güte, was hat die für eine fantastische Stimme! Ein großartiger Abend, genau wie „La Bohème“, wo ich davor war. Also: Ja, wann immer es möglich ist, besuche ich Veranstaltungen. Natürlich war ich auch – passend zur „Eurydice“-Premiere – in „Hadestown“ am Broadway und in Luigi Rossis „Orfeo“ an der Julliard School.
Wenn man Sie so reden hört, könnte man meinen, New York wäre eine Art Wahlheimat für Sie, zumal Sie ja auch hier mehrere Jahre studiert haben.
Orliński: In gewisser Hinsicht schon, ja. Die Stadt ist mir sehr vertraut, ich habe hier viele gute Freunde. Wenn ich hier ankomme, gibt es eigentlich sofort zahllose Dinge zu tun und zu erleben.
Haben Sie denn noch so etwas wie eine Heimat? Im Grunde genommen sind Sie ja ständig unterwegs.
Orliński: Oh, meine Heimat wird immer Warschau bleiben! Hier habe ich meine Wohnung, hier lebt meine Familie. Auch meine Tourneen starte ich immer von hier aus. Danach kehre ich hierher zurück und starte mein nächstes Projekt. Hier sind meine Wurzeln, deshalb freue ich mich auch besonders auf mein viertes Album, das ausschließlich aus polnischen Liedern besteht. Diese Musik ist einfach wundervoll, aber das Problem ist: Wir Polen kennen und lieben diese Lieder, doch außerhalb der polnischen Grenzen kennt kaum jemand diese Musik. Das möchte ich ändern!
Was macht diese Lieder so besonders?
Orliński: Viele Lieder auf dem Album wurden geschrieben, als Polen als Land noch nicht auf der Landkarte war. In den Liedern und den zugrunde liegenden Gedichten finden sich Sehnsucht, Kampf, Trauer, Hoffnung, also eher die schweren oder schwermütigen Teile der Gefühlswelten. Deshalb legen wir auch großen Wert auf bestmögliche Übersetzungen für das Booklet. Es ist nämlich verlockend einfach, die Lieder gefällig und ein wenig kitschig zu interpretieren, als wären sie nette Folklore. Aber das sind sie nicht, sie sind Teil unseres polnischen Erbes!
Herr Orlinski, wir haben jetzt über zeitgenössische Oper, Barockmusik, sakrale Musik und über polnische Lieder gesprochen. Auf Youtube kann man sich außerdem vergewissern, dass Sie einen formidablen Popsänger abgeben, auch Ihre Karriere als Breakdancer und Model ist hinlänglich bekannt. Was haben Sie denn noch alles vor?
Orliński: Ich war und werde immer aufgeschlossen sein gegenüber allem, was mir begegnet, insofern gibt es da keinen „Masterplan“. Wenn mich etwas überzeugt, dann bin ich sofort dabei! Inzwischen muss ich leider immer öfter „Nein“ sagen zu den spannendsten Projekten, weil man einfach nicht alles machen kann. Und ich habe zahllose Ideen für weitere Alben in der Schublade und werde immer weiter nach spannenden Entdeckungen suchen. Aber wenn Sie schon so fragen: Ich habe kürzlich eine Schmuckkollektion veröffentlicht, die man auch auf Instagram findet. Die habe ich gemeinsam mit einer Freundin entworfen, die Schmuckdesignerin ist.