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Interview François-Xavier Roth

„Es ist kein Sakrileg, neues Repertoire anzubieten“

Dirigent François-Xavier Roth scheint musikalische Epochen spielend überwinden zu können. Wie macht er das?

vonHelge Birkelbach,

Zwischen den Proben mal schnell ein Interview geben? Für François-Xavier Roth kein Problem. Lässig lässt er sich in das bequeme Sofa in einem der puristisch eingerichteten Räume der Berliner Philharmonie fallen, bleibt aber trotz seines immensen Arbeitspensums immer aufmerksam und mit eleganter Physis geschmeidig wie ein Panther.

Sie sind für ungewöhnliche Repertoire-Zusammenstellungen bekannt, quer durch die Epochen. Was ist Ihr Antrieb?

François-Xavier Roth: Mit der Gründung meines Ensembles Les Siècles habe ich damit begonnen, einen utopischen Traum zu leben. Ich wollte ein Orchester, das das Repertoire der jeweiligen Zeit ganz authentisch begreift, virtuos und anspruchsvoll musiziert. Meine Musiker waren bereit, das zu zeigen. Das Ergebnis sollte immer überraschend sein, für die Musiker wie auch das Publikum. Oft mischen wir bei einem Konzert die verschiedensten Zeiten und Instrumente. Beim Musikfest Berlin haben wir zum Beispiel Rameau auf Barockinstrumenten gespielt, danach Lachenmann und Berlioz – also drei verschiedene Instrumentenapparate. Natürlich könnte das Publikum diese Erfahrung separat in verschiedenen Konzerten machen, also ein Barock-, ein klassisches und ein zeitgenössisches Konzert. Mein Ziel ist es aber, diese Erfahrung unmittelbar aufeinanderfolgend anzubieten. Ich liebe „zeitgenössische“ Musik aller Epochen! Ich spiele immer so, als ob die Komponisten alle noch leben würden und mitten unter uns wären. Jeder dieser Künstler fieberte auf die Uraufführung hin, auf das erste Mal. Sie dachten nicht an die tausendste Wiederholung, sondern an die Überraschung, die sie der Welt bieten konnten. Der Komponist sagt etwas als Reaktion auf seine Zeit. Das Ergebnis kann eine Provokation sein, eine ruhige Resonanz, ein Nachdenken, ein Neudenken. Das genau interessiert mich: Was war die Motivation?

Diese Umstellungen sind für die Musiker sicher anstrengend.

Roth: Ganz klar. Die Musiker brauchen sehr viel Zeit, um sich darauf einzustellen und zu üben. Sie proben ein Stück und wechseln gleich danach in die Denkweise einer anderen Gegenwart. Auch in den Bewegungen, der Führung des Bogens oder der Luft der Bläser müssen sie komplett anders agieren. Das braucht Zeit bei den Proben. Wir müssen einen sehr detaillierten Probenplan ausarbeiten und diszipliniert arbeiten. Es ist anders als bei einem Orchester wie die Philharmoniker, die jede Woche ein neues Programm spielen. Dieser schnelle Wechsel ist bei Les Siècles nicht möglich. Wir denken in Projekten. Es ist ein Risiko – das wir aber gerne eingehen.

Gleichzeitig sind Sie Generalmusikdirektor in Köln und leiten das Gürzenich-Orchester. Wie funktioniert das?

Roth: Ganz anders. Die Musiker spielen auf modernen Instrumenten. Mein erster Eindruck, als ich das Orchester übernahm, war sehr gut. Es hatte ein besonderes Profil, das gefiel mir. Ein Repertoire von der Sinfonik über Solokonzerte bis hin zur Oper – und das für ein sehr großes und treues Publikum. Allerdings erschien mir das Repertoire zu konservativ, das wollte ich ändern. Wir spielen jetzt viel mehr moderne Stücke und Barockmusik. Ich hatte vor einiger Zeit ein Interview mit einem Journalisten aus Amsterdam, der erstaunt war, was sich das Orchester zutraut. Er fragte sich: „Wie kann es sein, dass wir in Amsterdam so schüchtern sind?“ Ich bin sehr stolz darauf, wie wir in Köln Fortschritte machen und zusammen arbeiten können.

François-Xavier Roth
François-Xavier Roth

Wie reagierte die lokale Presse auf die Neuerungen?

Roth: Sehr gut. Das hat auch viel mit Köln selbst zu tun. Die Avantgarde hatte hier immer ihren festen Platz, denken Sie nur an das Studio für elektronische Musik des WDR. Es ist vollkommen normal und kein Sakrileg, neues Repertoire anzubieten. Musiker und Orchester pflegen hier einen engen Kontakt zu den zeitgenössischen Komponisten. Das weiß die Presse und ist sensibilisiert. Ich hatte in einem Programm „Lux Aeterna“ von György Ligeti an den Anfang gesetzt, dann attacca „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms. Manchmal kennt das Publikum auch nur ein Drittel eines Programms, das ist gut für mich, formidable! Ich liebe das. Genau dieses Vertrauen des Publikums brauche ich, um mir auf unbekannte Wege zu folgen. Neugier ist so wichtig!

Nun gibt es auch Marketing-Abteilungen, die sich den Kopf zerbrechen müssen, wie ein solches Programm vermittelbar ist.

Roth: Ich kalkuliere keine Kompromisse ein, sondern betrachte immer zunächst den Anfang. Wo stehen wir? Nur wenn wir uns sicher sind, kann es gut werden. Wir hoffen, dass wir etwas aufbauen können. Nicht nur die Erwartung erfüllen, sondern darüber hinaus etwas erreichen. Dabei hilft es natürlich, wenn man als Dirigent über die Musik hinaus einen Draht zum Publikum findet. Ich bin zum Glück sehr kommunikativ, das macht mir Spaß. Bei Lachenmann habe ich zum Beispiel moderiert, das Orchester hat Teile angespielt und ich habe dem Publikum erklärt, was wir gerade machen. Nach dem Konzert kamen Besucher auf mich zu und sagten, dass sie niemals gedacht hätten, dass sie diese Musik verstehen, geschweige denn lieben könnten. Was für eine Freude! Wir Künstler müssen mutig sein – und noch viel mutiger werden. Unsere Musik ist ein Statement.

Auch auf YouTube waren Sie aktiv mit „Frag FXR“.

Roth: Ja, das habe ich immer vor den Konzerten mit dem Gürzenich-Orchester aufgenommen, bis 2017. Mit Les Siècles hatte ich ja bereits Erfahrungen im französischen Fernsehen gesammelt, ein sehr erfolgreiches Format. „Presto!“ lief auf France 2, immer kurz vor den Nachrichten, ein perfekter Sendeplatz. Die Folgen waren sehr kurz, jeweils nur zwei oder drei Minuten lang. Wir hatten eine enorme Reichweite. Das war auch eine Herausforderung: Wie begeistere ich die Leute für eine Brahms-Sinfonie – in drei Minuten? Es gibt so viele Menschen, die keine Ahnung haben, was wir machen. Aber wir wissen, dass eine Gesellschaft, die mehr über Musik und Kunst weiß, eine offenere Gesellschaft ist. Wir wollen nicht im Dunkeln leben, das wäre ein Skandal! Eine Konzertkarte ist nicht teuer, jedenfalls nicht hier in Deutschland. Es muss auch nicht immer ein großes Abendkonzert sein. Bei uns in Köln haben wir Lunchkonzerte, die dauern nur dreißig Minuten, jeweils um zwölf Uhr an einem Donnerstag. Ich probe mit dem Orchester und erkläre dem Publikum, was gerade passiert. Zu einigen Proben laden wir auch Kinder ein, die dürfen mitten im Orchester sitzen und zuhören. Sie können sich vorstellen: Das ist ein unglaubliches Erlebnis für die Kinder. Und wir gehen mit den Musikern raus und geben Kammermusik in Hospizen und karitativen Einrichtungen. Wenn die Leute nicht mehr zu uns kommen können, besuchen wir sie halt dort, wo sie leben. Und Sie werden es nicht glauben: Es gibt kein Tabu, was das Repertoire betrifft. Mozart und Berio, das funktioniert wunderbar! Wenn man keine Referenz hat, ist es ein viel spontaneres Erlebnis für die Zuhörer. Keine Vorurteile, ganz direkt.

Was ist das beste zeitgenössische Musikstück, um die Ohren zu öffnen?

Roth: Das ist schwierig und kann man pauschal nicht beantworten. Es ist immer die Frage, was die Leute gerade suchen. Aber zum Beispiel: Edgard Varèse, was wir gerade hier in Berlin spielen. Es gab ein großes Feedback zu diesem Schwerpunkt. Dieses Metallische, Rockende bei Varèse hat junge Zuhörer total begeistert. Auch Steve Reich funktioniert gut. „Music for 18 Musicians“ ist perfekt für Menschen, die elektronische Musik mögen. Patterns und modulare Strukturen sind nichts Fremdes für sie. Was sie dann allerdings überrascht, ist die Tatsache, dass man das auch live auf akustischen Instrumenten spielen kann. Keine Elektronik, sondern – nun ja – „historische“ Instrumente. Diese Überraschung, das ist genau das, was ich erreichen will.

Album-Tipp:

Album Cover für Berlioz: Symphonie fantastique

Berlioz: Symphonie fantastique

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