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Interview Igor Levit

„Das wäre wie Wasser predigen und Wein trinken“

Positionen beziehen: Für Igor Levit ist Haltung entscheidend im Leben. Dabei scheut der Pianist auch nicht die Auseinandersetzung

vonJakob Buhre,

Außergewöhnliches ist sein Markenzeichen: Im Dezember 2015 verfrachtete Igor Levit sein Publikum in New York in Liegestühle und sorgte so für eine fast meditative Atmosphäre, während der Pianist in gleißendem Licht Bachs Goldberg-Variationen interpretierte. Zweifellos ein Wagnis, wie auch seine Einspielung gleich dreier großer Variationswerke von Bach, Beethoven und Rzewski – die dennoch den Weg an die Spitze der Klassikcharts fand. Seine Devise: „Ich gehe immer vom Inhalt aus, und nicht von dem was Usus ist.“

Im November 2015 warben Sie vor Ihrem Konzert in Düsseldorf in einer kurzen Ansprache für die Unterstützung von Flüchtlingen. Welche Rolle kann Musik bei der Integration von Vertriebenen spielen?

Ich denke da erst mal daran, welche Rolle der Künstler spielen kann – und die ist nicht anders als die Rolle, die jeder normale, empathische Mensch spielen sollte. Wir alle sind Bürger dieses Landes und erleben die Situation, dass wir innerhalb kürzester Zeit sehr viele neue Mitbürger bekommen. Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen, denen ihr Leben unter den Füßen weggezogen wurde, die Geste der Mitmenschlichkeit und des Willkommens entgegenzubringen und ihnen Partizipation zu ermöglichen. Wir müssen ihnen das Gefühl geben: Ihr gehört zu uns.

Sie selbst sind in Nischni Nowgorod geboren und kamen 1995 als Achtjähriger nach Hannover.

Meine Familie und ich waren auch in einem Flüchtlingskontingent. Allerdings sind wir auf ganz anderem Wege hierher gekommen, wir sind geflogen und nicht Tausende Kilometer gelaufen.

Hat Ihnen die Musik bei der Integration geholfen?

Geholfen hat mir vor allem die Familie. Meine Eltern haben meine Schwester und mich sofort in Bildung gesteckt. Ich habe die deutsche Sprache sehr schnell gelernt – das war für mich ein Schlüssel. Und das Musizieren hat mich insofern hier integriert, als dass dadurch klar war, was meine Aufgabe ist.

Das finde ich auch jetzt sehr wichtig, dass wir Kinder, die hier ankommen, nicht einfach nichts tun lassen, sondern ihnen direkt bei Ankunft das Gefühl geben: Hier passiert etwas, du kannst hier mitmachen, kannst dabei sein. Was gerade geschieht, kann im Übrigen auch sehr bereichernd sein, wenn wir die Vertriebenen fragen: Was ist deine Kultur, deine Musik, deine Literatur, was bringst du mit?

Was haben Sie und Ihre Familie damals mitgebracht?

Ich selbst war noch zu klein, um etwas mitzubringen. Aber meine Mutter, die Klavierpädagogin ist, hat sehr viel mitgebracht. Sie hat in Russland bei Berta Marantz gelernt, die wiederum Schülerin von Heinrich Neuhaus war. Sie hat eine große Schatztruhe an Wissen, an Empathie, Verständnis und Geschmack, sie hat in Russland viel Tolles aber auch viel Schwieriges erlebt, das alles fließt in sie ein. Sie unterrichtet heute Kinder, führt sie über viele Jahre – das ist das, was sie mitbringt, das ist ihre Aufgabe.

2009 haben Sie Pressefotos veröffentlicht, auf denen Sie vor dem Berliner Holocaust-Mahnmal zu sehen sind. Warum haben Sie dies als Hintergrund gewählt?

Ich würde das heute so nicht mehr tun, aber damals war mir emotional danach. Wir sind dort hingegangen und haben dieses Foto gemacht, das fand ich wichtig, der Ort war mir wichtig. Dazu stehe ich auch. Ich war damals aber nicht annähernd in der Lage so zu reflektieren wie heute.

Wie wichtig ist Ihnen als Künstler Ihre jüdische Identität?

Sie ist mir sehr wichtig. Ich bin nicht religiös erzogen worden, aber das Judentum ist mir kulturell und in meiner Identifikation sehr wichtig, klar. Wie sich das auf mein Künstlerdasein ausgewirkt hat, kann ich Ihnen nicht genau beantworten: Als Künstler bin ich einfach der, der ich bin – und das bin ich nicht ohne Grund.

Sie haben jüngst Frederic Rzewskis The People United Will Never Be Defeated! aufgenommen, Variationen über ein chilenisches Protestlied, das zur Zeit von Pinochets Diktatur eine wichtige Rolle spielte. War dieses Werk für Sie in erster Linie musikalisch oder auch politisch interessant?

Ich habe das Stück nicht aufgenommen, weil ich dachte, es sei ein schönes Schmankerl, womit ich etwas über Politik erzählen könnte – sondern weil ich der Überzeugung bin, dass es neben den Diabelli- und Goldberg-Variationen zu den bedeutendsten Klaviervariationen gehört, die wir haben. Das Werk erzählt eine Geschichte, es spricht Menschen an, es ist wie ein lebender Körper, der sich da plötzlich vor einen stellt. Es hat eine starke, dezidierte Haltung und es erzwingt von mir als Interpret und von den Zuhörern eine Haltung.

In welcher Form?

Was das Werk einem sagt, was Zuhörer und Interpret erleben, ist ein tiefempfundenes Miteinander. Es ist kein Dozieren sondern in Musik ausgedrückte Teilhabe. Das Werk stellt auch die Frage, auf welcher Seite man steht. Menschen fühlen sich angesprochen und man kann sich nicht dagegen wehren, dass Parallelen gezogen werden von heute zu dem, was damals Mitte der 70er-Jahre passiert ist.

Das Thema Freiheitskampf eines unterdrückten Volks schwingt für Sie also immer mit?

Freiheitskampf ja, nicht aufzugeben, sondern weiterzumachen: Natürlich schwingt das mit, das ist ja auch heute noch ein großes Thema.

Nun beziehen Sie nicht nur musikalisch Stellung, sondern auch verbal: Als Twitterer sind Sie so aktiv wie kaum einer Ihrer Kollegen …  

Ich war immer schon sehr breit interessiert und neugierig, was so alles in der Welt passiert, ich habe immer gerne beobachtet – und Twitter war für mich zuerst eine Beobachtungsplattform. Es ist ein spannendes, lebendiges Medium in vielerlei Hinsicht, sei es musikalisch oder politisch. Manchmal kratzt es auch nur an der Oberfläche, und es geht zum Teil latent aggressiv zu: Es kommt vor, dass mir jemand Drohnachrichten schreibt, weil ihm etwas nicht gefällt. Aber damit muss man leben.

Halten Sie sich denn auch mal mit Äußerungen zurück, weil Sie die künstlerische Aktivität nicht durch Ihre Privatmeinung überlagern wollen?

In solchen Kategorien denke ich nicht. Ich weiß schon, was ich da schreibe. Und ich würde niemals eine mir wichtige Position nur deshalb nicht einnehmen, weil das meinem Beruf schaden könnte: Das wäre fatal, das wäre so wie Wasser predigen und Wein trinken. Ich kann sehr wohl damit leben, dass zum Position einnehmen auch gehört, dass man mal ein Ding zurück kriegt und die Konsequenzen spürt.

In New York haben Sie mit der Performance-Künstlerin Marina Abramović einen Konzertabend der besonderen Art gestaltet: Die Zuschauer saßen in Liegestühlen, mussten ihre Handys abgeben und 30 Minuten in Stille verbringen, bevor Sie anfingen zu spielen.

Marina Abramovicić ist eine bewundernswerte Frau und große Künstlerin, die Zusammenarbeit mit ihr war für mich beglückend und inspirierend! Die New Yorker Dezemberwochen gehören für mich mit zum Intensivsten und Schönsten der letzten Jahre.

Steckte dahinter der Gedanke, dass wir Zuhörer bei einem „normalen” Konzertabend zu abgelenkt sind?

Ja, wir sind abgelenkt – auch ich bin abgelenkt. Marina und mir ging es darum zu erleben, was passiert, wenn man vor einem Werk wie den Goldberg-Variationen alles wegnimmt, was ablenken könnte und so auf Reduktion geht, dass nur noch das Stück übrig bleibt.

Wäre es eine gute Idee, am Anfang eines jeden Konzerts die Zuhörer 15 Minuten zur Ruhe kommen zu lassen und erst dann zu beginnen?

Klar! Warum nicht? Es gibt nicht die eine Wahrheit, aber dies ist unsere Idee und die Wirkung ist sehr, sehr stark.

Sie haben damals in New York die Goldberg-Variationen an sieben Abenden gespielt – mit dem üblichen Konzertbetrieb hat dies nicht mehr viel zu tun, oder?

Sicher ist das sehr viel. Aber ich gehe immer vom Inhalt aus, nicht von dem was im Konzertbetrieb Usus ist. Wenn also ein Projekt 22 Aufführungen erfordert, dann ist es auch richtig, 22 Aufführungen zu machen.

Und was machen Sie dann die letzten 15 Minuten vor solch einem Auftritt?

Ach, da habe ich überhaupt keine Regel. Meistens bin ich entspannt, manchmal bin ich nicht entspannt, mal ist jemand auf der Bühne und wir reden, mal spiele ich, mal schreibe ich irgendetwas, mal schaue ich mir etwas an. Nur essen tue ich fast nie vor Konzerten.

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