Es sind schon viele Geschichten über die Pandemie geschrieben worden. Und es werden noch viele folgen. Dies hier ist eine ziemlich absurde Geschichte. Denn sie handelt von einer Künstlerin, die sich ein Verschnaufjahr gönnte – und nach der Hälfte plötzlich in den Lockdown rutschte. Zum Heulen, oder? Hilary Hahn sieht die Sache entspannt. Oder pragmatisch. Wir haben die weltweit gefeierte Geigerin per Videochat in Boston erreicht.
Im September 2019 sind Sie in Ihr geplantes Sabbatical gestartet, doch dann kam Corona. Wie hat sich das auf Ihr Energielevel ausgewirkt?
Hilary Hahn: Die Energie ist immer da, das Level ist jedoch von Mensch zu Mensch verschieden. Wenn du genug zur Verfügung hast und deine Grenzen kennst, nutzt du die Energie ohne Probleme. Aber in solch einer ungewöhnlichen Zeit hast du natürlich einen ungewöhnlichen Energieverbrauch, in vielfältiger Hinsicht. Ungewissheit, permanente Veränderung, aber auch Warten verbraucht Reserven. Sabbatical und Lockdown sind ja ganz verschiedene Erfahrungen. Ich hatte sozusagen ein halbes Jahr Sabbatical, ging in Museen, besuchte Konzerte und Ballettaufführungen. Was ich genau wann gemacht habe, kann ich Ihnen nicht sagen, es gab keinen Terminplan. Aber ich war extrem beschäftigt! (lacht) Das tat richtig gut, um mein Grounding wiederzufinden. Ich war frei in den Entscheidungen, wie ich meine Energie nutze.
Und dann kam der erwähnte Lockdown.
Hahn: Ja. Aber das war ein erzwungener Rückzug. Alle gewohnten Prozesse und Möglichkeiten änderten sich von einem Tag auf den anderen. Ich habe versucht, die Zeit produktiv zu nutzen, indem ich mich um mich selbst gekümmert habe. Warten habe ich schnell als kontraproduktiv erkannt und mich darauf fokussiert, was ich tatsächlich tun kann und was ich unbedingt tun sollte. Ich habe einfach akzeptiert, dass das Schicksal uns allen etwas Enormes aufgebürdet hat. Die Lösung war, sich auf den Moment zu konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit, nicht auf die Zukunft. In solch einer Situation Pläne zu schmieden, kann viel Energie verbrennen. Dennoch ist es durchaus möglich, in einer Koexistenz zu leben. Das Schreckliche muss nicht gegenüber dem Guten dominieren, du musst ihm nur Raum geben. Ich konnte in Ruhe üben, ohne an einen Tourplan denken zu müssen und an Termine gebunden zu sein. Ich habe mich in Form gehalten, viel reflektiert, mich mit den sozialen Ungerechtigkeiten in Amerika beschäftigt und mit der Situation von Menschen, die nicht gesehen und gehört werden, die keine Stimme haben so wie ich. Und ich habe mich vorbereitet. Ich möchte bereit sein, wenn es wieder losgeht. Ich bin mir sicher: Das Gefühl wird intensiv sein!
Wie haben Sie das Musikgeschehen in den vergangenen Monaten verfolgt? Haben Sie sich auch gestreamte Konzerte angeschaut?
Hahn: Ja, das war eine gute Möglichkeit, in Verbindung zu bleiben, auch mit den Kollegen. Ich glaube sowieso, dass diese Form des Auftritts in Zukunft mehr Bedeutung gewinnen wird, gerade bei Uraufführungen. Das werden dann tatsächlich Welt-Premieren sein. Wir werden viel mehr mit Tools der Künstlichen Intelligenz arbeiten, um neue Erfahrungen zu sammeln, um zu experimentieren, um Zuhörer und Interpreten näher zu bringen. Aber auch, um Komponisten und Interpreten einen engeren Austausch zu ermöglichen. Man kann beispielsweise auch über virtuelle Residencys nachdenken. Ich bin jetzt über ein Jahr nicht mehr live mit Orchester aufgetreten, aber es gab eine solche virtuelle Residency für mich. Man muss dazu sagen, dass wir durch die harten Pandemiebeschränkungen hier in Amerika viel weniger Möglichkeiten hatten als in Europa, wo es Testkonzerte und Modellprojekte gab, oder Kammerensembles, die draußen spielten. Und die großen Entfernungen machen es bei uns auch nicht leichter.
Auf Ihrem neuen Album „Paris“ findet sich unter anderem Prokofjews 1. Violinkonzert. Eine Herausforderung, aber auch „lebensbejahend“, sagten Sie. Gibt es weitere Gründe, warum Sie dieses Stück so lieben?
Hahn: Ich habe das Konzert schon als Teenager gespielt. Es hat all diese Stimmungswechsel, die mich bereits damals bewegt haben. Es hat schnelle technische Änderungen, Sprünge, sehr viel Kraft. Die Herausforderung besteht darin, das alles zusammenzubringen. Dinge zu verbinden, die vermeintlich nicht zusammengehören. Man kann das Stück in ganz verschiedenen Proportionszuordnungen spielen, hier verdichten, dort dehnen. Oder auch mal übertreiben (lacht). Es reißt dich mit, es ist unaufhaltsam und dreht dich einmal um die eigene Achse. Es stellt dich auf den Kopf. Verdammt, ja, es ist wie in einer Waschmaschine! Am Ende hast du ein unbeschreiblich positives Gefühl und denkst: Was ist da gerade passiert? Ich wollte es genau mit diesem Orchester aufnehmen, mit Mikko Franck und dem Orchestre Philharmonique de Radio France. Ich habe schon oft mit ihnen gespielt, es gab auch TV-Übertragungen, aber diese Aufnahme ist das erste gemeinsame Album. Und es passt perfekt, dass die Premiere von Prokofjews Violinkonzert seinerzeit in Paris stattfand.
Mit Rautavaaras „Deux Sérénades“ haben Sie eine eigene Premiere auf dem Album. Die beiden Stücke heißen: „Sérénade pour mon amour“ und „Sérénade pour la vie“. Leben und Liebe, zwei große, wesentliche Begriffe. Ist ein Leben ohne Liebe möglich?
Hahn: Es ist ein tiefes menschliches Bedürfnis, eine Verbindung einzugehen, in welcher Form auch immer. Es gibt Menschen, die eine Verbindung mit der Natur suchen, die vielleicht zurückgezogen leben wollen, und es ist perfekt für sie. Andere suchen eine enge Bindung zu einem Menschen, sie suchen dauerhafte Nähe und heiraten vielleicht. Oder sie wollen mit vielen Menschen verbunden sein, oder lieben andere mehr als sich selbst. Es gibt so viele verschiedene Formen der Liebe. In jedem Fall aber ist es etwas, wonach wir Menschen suchen – auch in der Kunst. Was wäre die Musik ohne dieses große Thema? Rautavaara hat die „Deux Sérénades“ für seine Frau geschrieben, als er schon merkte, dass er nicht mehr lange leben würde. Sie hatten eine äußerst innige Beziehung über all die Jahre. Er war ein spiritueller Mensch, hatte aber auch seine dunklen Seiten. Er fürchtete den Schlaf, ihn plagten seit seiner Jugend schreckliche Träume. Ich habe Rautavaara leider nie persönlich getroffen, aber Mikko und er waren enge Freunde. Die Serenaden hat Rautavaara schließlich mir zugeeignet, um sie erstmals aufzuführen. Sie sind voller Wärme und Tiefe. Als Komponist zeichnet er keine Welt der Konflikte und des Leids, sondern eröffnet eine positive Vision.
Eine Frage, die vielleicht sehr persönlich ist: Wann haben Sie das letzte Mal geweint?
Hahn: Äh, gestern? (lacht laut) Es ist doch Blödsinn, wenn jeder so tut, als ob alles immer okay ist. Ist es nicht! Das geht absolut in Ordnung. Wenn du weinen musst, dann weinst du. Es ist wichtig, zu akzeptieren, dass wir einfach nur Menschen sind, die Gefühle haben. Manchmal sind es eben ganz starke Gefühle. Manchmal schaffen wir nicht alles auf einmal. Das Leben ist nicht immer einfach, für niemanden. Wenn ich müde bin oder frustriert, dann weine ich für ein paar Sekunden, oder eine Minute, und dann ist alles wieder fein. Dann denke ich mir: Okay, okay, das war’s – und weiter geht’s! Es ist ein hilfreiches Mittel, sich der Wertigkeit des Lebens bewusst zu werden und zu erkennen, was gerade passiert. Man muss es nur erlauben. Wenn dich etwas wirklich stark bewegt und du mit jemandem darüber sprechen musst: Go for it! Zu erkennen, was in meinem Leben und um mich herum passiert, ist gerade für mich als Künstlerin essenziell.
Was glauben Sie: Wird Corona die Musikwelt verändern?
Hahn: Wir leben in einer Zeit, die durch ein einziges Ereignis komplett erschüttert wird – und das weltweit. Es ist eine faszinierende Zeit, die sich auch in der Kunst niederschlagen wird. Wir sind mittendrin, so wie seinerzeit Beethoven, Schostakowitsch oder Prokofjew. Revolution des Geistes, fürchterlicher Weltkrieg oder das Flair einer Metropole in einer gewissen Epoche, in der die Uraufführung stattfand: All das können wir heraushören. Und so wird es auch mit der Musik sein, die gerade geschrieben wird. Kunst ist eine Bestandsaufnahme der Geschichte, die gerade passiert. Das vergisst man leicht, wenn man ein Werk hört, das man schon oft gehört hat. Man erkennt die Musik, verkennt aber den Kontext. Dann heißt es schlicht: Ah, das ist dieses Concerto oder das ist jene Sonate – und vergisst, dass es ein Stück aus dem großen Puzzle ist.