Morgens um viertel vor neun ist eine ungewöhnliche Uhrzeit, sich mit einem Musiker zu treffen. Doch wenn man so viel beschäftigt ist wie Hans-Christoph Rademann, muss man auch so ein kleines Zeitfenster nutzen, zwischen morgendlicher Ankunft des Flugzeugs und der Chorprobe. Und zum Glück hört der Chef des RIAS Kammerchors und des Dresdner Kammerchors auch um diese Zeit ebenso gut wie aufmerksam.
Schütz: Musicalische Vesper. Eile mich Gott zu erretten SWV 282
Kölner Kammerchor, Collegium Cartusianum, Peter Neumann (Leitung)
2003. MDG
Das ist eine sehr schöne Aufnahme, sie betont das Rhapsodische dieser Musik. Sie läuft immer mehrfach an, so dass die Klage nicht ganz so zielbewusst ist. Es geht ja darum, diese innere Zerrissenheit auszudrücken, und das ist hier gut gelungen. Ist das der Herr Brutscher, der singt? (ja!) Ich habe schon oft mit ihm gearbeitet. Aber die Aufnahme ist schon etwas älter, er singt jetzt ein bisschen härter. Man merkt bei diesen Stücken, dass sie recht ungünstig liegen für einen Tenor. Sobald es über eine bestimmte Tonhöhe hinausgeht, H oder C, kommt das zum Tragen. Davon abgesehen hätte ich persönlich nichts dagegen, wenn der Basso continuo etwas farbiger wäre, vielleicht mit einer Theorbe, aber darüber kann man streiten.
Johann Bach: Unser Leben ist ein Schatten
Cantus Cölln, Konrad Junghänel (Leitung)
2003. harmonia mundi
Das ist Bach, aber welcher? Da habe ich eine Bildungslücke, wie peinlich. Aber das Stück kenne ich natürlich. Und diese Interpretation gefällt mir gut. Das ist ein sehr professionelles Ensemble, ein Vertreter der deutschen Alten-Musik-Szene, der sehr etabliert ist. Es klingt wie eine Referenzaufnahme. Wenn ich die Gelegenheit hätte, würde ich das Stück gerne mal machen. Winzig besetzt, vielleicht im Hauptchor mit zwölf Sängern.
J.S.Bach: Weihnachtsoratorium „Wie soll ich dich empfangen“
Chorgemeinschaft Neubeuren, KlangVerwaltung, Enoch zu Guttenberg (Leitung)
1997. Farao Classics
Einerseits finde ich das sehr plausibel: Der Dirigent hat sich sehr viel überlegt und das unsichere Gefühl dieses Chorals sehr gut herausgearbeitet. Andererseits geht mir die Interpretation zu wenig vom natürlichen Sprachduktus aus. Die Musik ist zu breit gedrückt in den Endsilben, so dass die Stimmführung etwas in den Hintergrund rückt. Und gerade dieser Choral hat ja eine sehr schöne Stimmführung. Ist das eine ältere Aufnahme? Ich tippe auf einen geschulten Amateurchor – man hört das an der Klangdichte, und an der Intonation kann man es auch festmachen. Insgesamt ist es mir zu zerdehnt. Herr zu Guttenberg – das passt zu ihm. Er denkt sich immer viel bei dem, was er tut, aber er projiziert oft auch außermusikalische Ideen hinein. Er hat ja schon mal den Umweltschutz in die Matthäus-Passion eingebracht.
Mozart/Levin: Messe c-Moll KV 427 Crucifixus
Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling (Leitung)
2005. Hänssler Classic
Das ist Mozart, aber welche Messe? Ach so, das ist eine Ergänzung. Von Levin? Ich habe damit meine liebe Not. Sie erscheint mir teilweise zwar genial, aber an manchen Stellen ist sie mir zu mitteilsam. Ich glaube, dass sich Levin wie kaum ein anderer in Mozarts Denken hineingearbeitet hat, da hat er eine große Begabung. Aber persönlich tendiere ich zur unergänzten Fassung. Dann ist das die Stuttgarter Aufnahme mit Rilling? Sie ist klar strukturiert, rhythmisch sehr deutlich, gut durchhörbar und klar phrasiert. Ich würde mir einen Tick mehr Beweglichkeit wünschen: mehr Bewegtheit im Ton, mehr Schwingungen. Aber man hört die sehr hohe Kompetenz im Oratorienbereich. Das Ganze ist auf Wirkung gearbeitet, auf Plastizität. Da spielt natürlich auch die Routine von Hunderten Aufnahmen eine Rolle, man weiß genau, was man auf dem Band haben will.
Anonym: Hanacpachap Cussicuinim (Lima 1631)
Moon, sun & all things. Baroque Music from Latin America 2. Ex cathedra, Jeffrey Skidmore (Leitung)
2005. Hyperion
Das ist Sakralmusik, aber wo kommt die her? Ich dachte erst an Osteuropa, jetzt schwanke ich. Mir gefällt das super. Das ist toll gemacht, und der Chor ist gut. Dieser Legatoschwung des Klangs, das fließt gut. Ich glaube nicht, dass das Profis sind, aber das ist eine tolle Aufnahme, die kaufe ich mir. Das älteste gedruckte polyphone Stück aus Südamerika – das müsste ich mir direkt zum Musikfest Stuttgart einladen. Da machen wir im nächsten Jahr eine Reihe mit der „ältesten Musik der Welt“. Da sollen ganz verschiedene Strömungen erklingen, und das würde gut passen. Und dem Publikum gefällt das bestimmt.
Arnold Mendelssohn: Deutsche Messe op. 89
SWR Vokalensemble Stuttgart, Frieder Bernius (Leitung)
2012. Hänssler Classic
Das ist ganz schwer einzuordnen. Gehört es in die Mendelssohn-Zeit? Arnold Mendelssohn – wenn ich mich recht erinnere, gibt es da eine Aufnahme von Frieder Bernius mit dem SWR. Das ist Top-Niveau. Da fühle ich mich zu Hause, diese Klänge bin ich vom RIAS Kammerchor gewohnt. Das ist das beste, was man als Chorleiter bekommen kann. Da gibt es höchstens mal minimale Kleinigkeiten zu korrigieren. Man hört hier die Handschrift von Frieder Bernius: Diesen feinauflösenden Chorklang, wie ein sanfter Strom. Manchmal müssen die Sänger ihre Stimme reduzieren, das hört man auch, aber es kommt dem Gesamtklang sehr zugute. Hier steht die Homogenität ganz im Vordergrund. Das wirkt dann auch etwas glatt, aber das sind persönliche Anschauungen. Über Personalstile sollte man eigentlich nicht urteilen. Einen ausgeprägten Personalstil muss man akzeptieren. Wenn es gut gemacht ist.