Startseite » Interviews » Blind gehört » „Da geht mir das Herz auf“

Blind gehört Hanno Müller-Brachmann

„Da geht mir das Herz auf“

Der Bassbariton Hanno Müller-Brachmann hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer singt

vonJakob Buhre,

Hannover im Mai 2013, es ist kurz nach 18 Uhr, als Dirigent Andris Nelsons die Anspielprobe im opulenten Kuppelsaal für das noch opulentere War Requiem von Benjamin Britten beendet. Einer der Solisten ist Hanno Müller-Brachmann, der nun zum „Blind gehört“ in seiner Künstlergarderobe empfängt, begleitet von seinem Sohn. 

 

Er ist zweifellos ein Experte, was Baritone anbelangt, nicht nur durch die eigene Konzert- und Bühnenerfahrung, sondern auch durch seine Lehrtätigkeit, von 2006 bis 2011 in Berlin und seit 2012 in Karlsruhe. Wenn er eine Stimme nicht bereits nach wenigen Takten erkannt hat, grübelt er sichtbar, singt mit und kneift die Augen zusammen, als müsste er genauer hingucken. „Nein, bitte noch nicht auflösen – das ist spannend!“

 

Ob Oratorium, Oper oder Lied, Hanno Müller-Brachmann ist in allem – ob auf der Opernbühne oder dem Konzertpodium – zu Hause. Entsprechend vielfältig ist die Auswahl der Aufnahmen:

Haydn: Die Jahreszeiten

René Pape (Bariton)

Chicago Symphony Orchestra &

Chorus, Sir Georg Solti (Leitung)

Decca 1993

Und Wotan sprach: „Erheitert ist die Luft.“ Das ist René Pape mit den Jahreszeiten! Er ist ein wunderbarer Sänger, das ist so wie Heimat, wenn ich das höre, da geht mir das Herz auf. Ich habe 13 Jahre neben ihm gesungen, ihn 13 Jahre bewundert, 13 Jahre versucht, gewisse Dinge nachzumachen und von ihm zu lernen. Wenn er hier jetzt so breit sagt „erheitert ist die Luft“, molto legato, dann ist das eindrucksvoll gesungen, aber es ist natürlich nicht das, was im Text steht. Ich würde es etwas leichtfüßiger artikulieren und Haydn mehr von Bach aus sehen, als von Wagner. Ich habe mich auch etwas mehr mit Alter Musik beschäftigt als René, auch mehr mit dem Lied, während er wahnsinnig früh das große Opernrepertoire und viel Wagner gesungen hat. Das hört man. Er singt das hervorragend, keine Frage, aber ich habe einen anderen Interpretationsansatz: Wann wurde das Werk geschrieben, wie ist das Wort-Ton-Verhältnis? Das ist bei Haydn anders als bei Wagner, daher würde ich es leichter interpretieren. Ich liebe aber dieses Legato und die Farben, die Pape machen kann. Auch diese unglaubliche Natürlichkeit, wenn er laut singt, dieser Klang kommt bei ihm eben ganz einfach raus. 

 

Mendelssohn: „Is Not His Word Like A Fire“ aus „Elijah“

Bryn Terfel (Bariton)

Orchestra of the Age of

Englightenment, Paul Daniel (Leitung)

Decca 1997

Hah! Herrlich! Das ist Bryn Terfel. Die Aufnahme kenne ich nicht, aber wunderbar. Eine wahnsinnige Naturbegabung, ein Geschenk des Himmels, dieser Sänger. Im Prinzip ist er das walisische Pendant zu René Pape (lacht). Ein Urviech. Und die Feuerarie ist natürlich hochdramatisch, das ist die Eruption des Vesuv. Da weist Mendelssohn auch weit über seine Zeit hinaus, ich glaube, es gibt bis dahin nichts Dramatischeres. Ich habe den Elias gerade in Schottland gesungen, aber auf Deutsch. Es wurde damals ja zuerst in Birmingham uraufgeführt, Mendelssohn hat es für beide Sprachen komponiert, und die englischen Worte passen exzellent auf die Musik. Viel besser übrigens als die englischen Worte für Haydns Schöpfung, da gefällt mir der deutsche Text viel besser. Als ich einmal die Schöpfung auf Englisch gemacht habe, in Chicago, zusammen mit Ian Bos-tridge, da fing der während der Probe an, auf Deutsch zu singen, weil ihm das so vertraut war. Weil die deutsche Übersetzung einfach viel besser passt. 

 

Schreker: „In einem Lande ein bleicher Konig“ aus „Der ferne Klang“

Thomas Hampson (Bariton)

Münchner Rundfunkorchester

Fabio Luisi (Leitung)

EMI Classics 1995

 

Eine sehr schöne Stimme, sehr kultiviert gesungen – ich würde sagen, es ist kein Deutscher. Weil er sich sehr um die Deutlichkeit des Textes bemüht, es klingt nicht so, als wäre es seine Muttersprache. Ist es vielleicht Jonathan Lemalu? Die Stimme ist sehr ausgeglichen, sehr geschmackvoll und musikalisch, schöne Farben – ein eher hoher Bariton. Bei der Tiefe muss er sich sehr anstrengen, dass es noch schließt. Die Höhe ist dagegen ganz wunderbar, die Stellen konnte ich nie so lyrisch singen, weil meine Stimme einfach tiefer gelagert ist. Dem Bassbariton fehlt ja immer die leichte Höhe, da war ich oft neidisch auf die Kollegen. Hm, schwer zu sagen – vielleicht hören wir noch etwas anderes von ihm?

Mozart: „Donne mie, la fate a tanti“ aus „Così fan tutte“

Thomas Hampson (Bariton)

Wiener Philharmoniker

James Levine (Leitung)

Deutsche Grammophon 1989

Der Guglielmo ist sehr leicht, spritzig, wie Champagner, so muss das sein. Ich komme jetzt nicht auf den Namen, aber ich glaube, es ist ein Engländer. Amerikaner sagen Sie? – Dann vielleicht Thomas Hampson. Das hätte ich jetzt aber nicht sofort erkannt. Ich habe von ihm viel mehr Mahler gehört, als Mozart-Sänger habe ich ihn nicht im Ohr. Ich höre aber schon seit längerer Zeit nicht mehr so viele Aufnahmen. Was einerseits schade ist, andererseits mache ich den ganzen Tag Musik, höre meine Studenten oder musiziere selbst. Früher, mit 20, da habe ich das alles natürlich gefressen und ständig Musik gehört. Das kann ich so heute nicht mehr, da gibt es dann eher mal den Wunsch, einfach nichts zu hören.

Schubert: „Der Jäger“ aus „Die schöne Müllerin“

Christian Gerhaher (Bariton)

Gerold Huber (Klavier)

Arte Nova 2003

Das könnte Christian Gerhaher sein. Der Text ist unheimlich prägnant, und es ist immer ein wunderschöner Kern in der Stimme, die edle Träne ist immer dabei. Damit meine ich so einen kleinen Seufzer in der Brillanz. Ich persönlich versuche das nicht, das ist nicht mein Anspruch an die Interpretation. Mir geht es eher darum, dem Stück so gut wie möglich zu dienen und sich weniger an belcantistischen Kriterien zu orientieren. Aber er macht das ganz wunderbar, es ist trotzdem sehr authentisch.

Bach: „Et in Spiritum sanctum“ aus der h-Moll-Messe

Peter Kooij (Bariton)

Bach Collegium Japan

Masaaki Suzuki (Leitung)

BIS Records 2007

Das ist wirklich eine schwere Arie. Hm… ich glaube, das ist Peter Kooij. Bei ihm ist es nicht die große, von Natur aus laute Stimme, dafür aber die Flexibilität, das ist sehr weich, sehr schön in der Führung. In der Höhe ist die Partie sehr schwer, man muss diese Arie so leicht singen, wie Peter Kooij es hier macht, das muss ätherisch schweben und das kann er mit dieser leichten Stimme ganz toll verifizieren. Dass es ein Alte Musik-Ensemble ist, hört man zum Beispiel an den Oboen, das klingt einfach ein bisschen quäkiger als eine moderne Oboe. Ich singe unheimlich gerne mit Original-Instrumenten, insbesondere diese Musik. Das hier ist sehr schön musiziert, sehr fluppig weich, auch im Orchester schwebt es, so wie es schweben soll. Suzuki ist ja einer der ganz Großen, was er in Japan und im asiatischen Raum geschaffen hat, ist in etwa so, als würde man an der Berliner Staatsoper die Peking-Oper installieren. Ich habe zum Beispiel sehr gerne mit ihm beim Boston Symphony Orchestra die Johannes-Passion gesungen.

Mussorgsky: „Cradle Song“ aus „Songs And Dances Of Death“

Aage Haugland (Bariton)

Poul Rosenbaum (Klavier)

Chandos 1999

Das hier ist sehr gut im Ausdruck, eine schöne Farbe. Der Inhalt des Textes kommt gut zur Geltung, damit meine ich dieses Verschlafene. Die Stimme sitzt ein bisschen hinten, wie bei vielen Russen. Aber den Sänger kenne ich, glaube ich, nicht. Aage Haugland? Nein, der Name sagt mir nichts. Hier sind jetzt so ein paar Seufzer drin, das ist mir an der Stelle zu viel, dramatisch zu überzeichnet, zu opernhaft im Lied, das würde ich nicht machen. Ich verstehe aber seinen Ansatz, weil das eine dramatische Szene ist, ein Gespräch zwischen dem Tod und der Mutter, die ihr Kind verliert. Die Atmosphäre, die gezeichnet wird, finde ich ganz toll. Da kann ich mir für meine Liederabende noch Inspirationen holen.

Arlen/Mercer: „Ac-cent-tchu-ate The Positive“ aus „The Jazz Album“

Thomas Quasthoff (Bariton)

Deutsche Grammophon 2006

Sehr schön – aber ich weiß nicht, wer das ist. Es passt auf jeden Fall zu der Musik. Ach, das ist Thomas Quasthoff, crossing over? Die Platte hatte ich noch nicht gehört. Nun, es ist nicht Frank Sinatra – aber ich könnte es nicht besser. (lacht) Jazz ist eben nicht meine Muttermilch, sondern ich bin mit Bach groß geworden. Wobei ich Jazz total mag und zu Hause viel höre, mir gefällt besonders die qualitätsvolle Unterhaltungsmusik aus den 20er und 30er Jahren. Enge Freunde von mir sind wunderbare Jazz-Musiker, und wenn die loslegen, genieße ich das. Ich kann auch gut verstehen, dass Quasthoff so eine Platte gemacht hat. Wir Sänger sind schließlich nicht nur Marketing-Produkte und nicht nur auf der Welt, um Erwartungen von irgendwelchen Kritikern zu erfüllen, sondern um Spaß zu haben an dem, was wir tun. Und das hört man hier doch, auch wenn es jetzt nicht „native“ ist, er hat Spaß dabei, seine Fans bestimmt auch – das ist doch die Hauptsache.

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!