Bachs Matthäus-Passion, Mozarts Don Giovanni und Wagners Parsifal: Eine überraschende Auswahl, die Guy Braunstein da bei der berühmten Frage nach den drei Lieblingsstücken für die einsame Insel trifft. Nein, kein Violinkonzert findet sich unter seinen Favoriten – und auch sonst geht der Geiger bei „Blind gehört“ recht kritisch mit manch Saiten-Werk und -Kollegen ins Gericht. Mit sieben Jahren begann der kleine Guy mit den ersten Strichen – weil ein Nachbar in seinem Heimatdorf nahe Tel Aviv ihn mit seinem Spiel so fasziniert hatte. Die ersten und für ihn wichtigsten Jahre nahm ihn Chaim Taub unter seine Fittiche, mit dem der mittlerweile 40-Jährige bis heute zwei-, dreimal im Jahr bei seinen Besuchen in Israel gemeinsam arbeitet; in New York folgten dann später Studien bei Glenn Dicterow und Pinchas Zuckerman, bevor Braunstein im Jahr 2000 als jüngster Geiger aller Zeiten zum 1. Konzertmeister der Berliner Philharmoniker ernannt wurde. Seither hat der Künstlerische Leiter des Rolandseck-Festivals nicht nur mit allen großen Dirigenten unserer Zeit zusammengearbeitet, sondern ist auch als Solist mit zahlreichen renommierten Orchestern aufgetreten.
Beethoven: Violinkonzert
Anne-Sophie Mutter (Violine), Herbert von Karajan (Leitung)
1980 Deutsche Grammophon
Lange Linien (nickt anerkennend) – zweiter Satz, klar, das Larghetto kenne ich, aber wer da spielt, klingt für mich trotzdem unbekannt… sind das die Berliner Philharmoniker? Ja, dann kenne ich diese Aufnahme: Sie ist ganz alt mit der ganz jungen Anne-Sophie Mutter und mit Karajan. Ich habe diese Aufnahme seit mindestens 20 Jahren nicht mehr gehört, aber als ich jung war, war das eine Referenzaufnahme für mich. Abgesehen vom enormen Respekt, den ich gegenüber Anne-Sophie habe, liegt das vor allem an Karajan: Spulen Sie nochmal zurück… das erste Tutti: Hören Sie die Pause? Und trotzdem läuft die Phrase weiter. Es klingt sehr entspannt und ist doch trotz dieses sehr langsamen Tempos eine einzige große Phrase – und das ist eindeutig Karajan. Mir gefällt zwar die junge Anne-Sophie Mutter eigentlich weniger als die ältere wegen des geringeren Variantenreichtums im Geigenspiel, aber eben Herbert von Karajan: The one and only.
Beethoven: „Kreutzer-Sonate»
Gidon Kremer (Violine), Martha Argerich (Klavier)
1995. Deutsche Grammophon
Es ist eine relativ alte Aufnahme, oder? – 1995? Oh, ich dachte, die Aufnahme sei wesentlich älter. Die gefällt mir eigentlich weniger, das ist genau das Gegenteil von Karajan: Hier sind die Pausen Unterbrechungen. Ist das Argerich? Mit Kremer? Diese Aufnahme kenne ich nicht, aber die besondere Artikulation der beiden habe ich erkannt: Das ist sehr eckig – ich habe großen Respekt vor dieser Art des Musizierens, aber ich bin da ein bisschen altmodisch. Vielleicht weil ich mit dieser Kreutzer-Sonate aufgewachsen bin, mit Aufnahmen von Arthur Rubinstein und Henryk Szeryng oder auch der für mich vielleicht besten Aufnahme dieser Sonate von Joseph Szigeti und dem Komponisten Béla Bartók als Pianist, live aus der Library of Congress in Washington, kurz nach dem 2. Weltkrieg – das ist für mich die beste Aufnahme, die es von dieser Sonate gibt.
Brahms: Violinkonzert
Viktor Tretyakov (Violine), UdSSR Radio Rymphony Orchestra
1985. Melodiya
Dritter Satz aus dem Violinkonzert von Brahms natürlich, aber ich habe keine Ahnung, von wem das sein könnte. Was ich in diesem Satz suche, wenn ich das Werk spiele, sind die drei Gesichter von Johannes Brahms: das Hamburger Gesicht, das Wiener und das ungarische – und in diesem dritten Satz erlebt man alle drei, er wechselt ständig sein Gesicht. Erst einmal ist Brahms Hamburg, die alte deutsche Tradition in direkter Linie von Beethoven und Schumann; aber es gibt eben auch die Wiener, von Johann Strauß beeinflusst Seite – und hier, diese Stelle, das ist natürlich jetzt ungarisch, das ist der Kern aus den Ungarischen Tänzen. Und in diesem dritten Satz erlebt man alle drei Seiten von Brahms, auch mit dem gleichen Gewicht – und das hat mich immer an diesem Satz besonders fasziniert. Das ist jetzt Wien… hier kann man sich Fritz Kreisler vorstellen… ist das Isaac Stern? Nein? – Viktor Tretyakov? Aha – und das Orchester war dann das Moskauer Radiosinfonieorchester… mit Tretyakov habe ich Meisterkurse gemacht, als ich 16 Jahre alt war – und ein paar Jahre später habe ich mit diesem Orchester dann schon unter seinem neuen Namen gespielt, allerdings nicht Brahms.
Ravel: Tzigane
Daniel Hope (Violine), Sebastian Knauer (Luthéal)
2004. Warner Classics
Ich weiß zwar nicht, wer es spielt, aber er spielt es sehr zigeunerhaft. Natürlich ist es keine Zigeuner-Geige, aber er kennt diese Art des Musizierens. Das Stück ist zwar ein Zirkusstück, aber es ist ein großartiges Zirkusstück. Wunderbar gespielt… und wenn dann nach dieser langen Kadenz der Solo-Geige das Orchester einsetzt… da kommt mir mein alter Professor in Tel Aviv in Erinnerung: Er hat rumgeschrien, als ich als 15-Jähriger versuchte, dieses Stück zu spielen. Er war total unzufrieden und sagte, wenn ich so weiterspielen würde, dann könnte ich mich nach einem neuen Beruf umschauen. Doch ich wollte ihm zeigen, dass ich es kann und habe doppelt so viel gearbeitet, aber das war ein Kampf – wirklich ein großer Kampf gegen mich selbst… und ich bin immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich diesen Kampf gewonnen habe.
Sibelius: Violinkonzert
Isaac Stern (Violine), Philadelphia Orchestra
1958. Sony Classical
Sibelius-Konzert, dritter Satz… ist das Kavakos? Ich schalte da normalerweise ein bisschen zurück, ich suche die Pferde: Jam-pakaa-dam, paka-dam, paka-dam, paka-dam, paka-dam – das Hufgetrappel der Pferde… keine Ahnung, wer da spielt, aber es ist nichts Besonderes: Ich vermisse die innere Kraft dieser Musik, das Temperament – dies hier ist für mich ein Kampf. Nun erzählen Sie, gegen wen habe ich gesprochen? Isaac Stern, okay… Ich habe vor vielen Jahren mit Isaac Stern in seiner Wohnung in New York gearbeitet, und zwar genau auch dieses Werk. Doch da hat er mir etwas ganz anderes erzählt als das, was wir jetzt hier hören. Apropos: Das zweite Stück auf diesem Album, das zweite Violinkonzert von Bartók mit Stern, Bernstein und den New Yorker Philharmonikern, ist eine der besten Aufnahmen, die es gibt. Aber dieses hier ist für mich weder Fisch noch Fleisch, das gefällt mir nicht: Bevor ich wusste, wer spielt, habe ich gedacht, der Geiger denkt auf seinem eigenen Instrument und empfindet nicht wirklich den Geist dieser Musik – ich spiele das völlig anders. Ich bin schon als Kind sehr oft zu Stern gekommen und habe über viele Jahre mit ihm gearbeitet, denn er kam sehr oft nach Tel Aviv und Jerusalem, um Meisterkurse zu geben – und später bin ich dann nach New York gefahren, um mit ihm zu studieren.
Brahms: Sonate für Bratsche und Klavier op. 120
Pinchas Zukerman (Viola), Marc Neikrug (Klavier)
1991. BMG Music
Das ist die Klarinettensonate von Brahms… (Viola setzt ein), okay, gespielt auf Bratsche und das muss mein Lehrer sein, Pinchas Zukerman! Die Art von Pinchas Zukerman, diese Intensität erkenne ich nach zwei Tönen, das ist ganz eindeutig wie bei Jascha Heifetz. Man weiß sofort: Das ist Pinchie – im Guten wie im Schlechten. Diese Aufnahme ist wunderbar, er ist großartig als Bratschist wie als Geiger. Obwohl die meisten die Bratsche heute viel dunkler als er spielen… Natürlich denke ich über Musik ganz anders als er, ich würde jeden Ton anders spielen – und trotzdem bin ich ein großer Fan. Das ist immer top – nicht immer unbedingt mein Ding, aber immer großartig und Top-Qualität.
Tschaikowsky: Violinkonzert
David Garrett (Violine), Russian National Orchestra
2001. Deutsche Grammophon
Diese Aufnahme kenne ich nicht… klingt bis jetzt aber sehr schön… Man macht oft den Fehler und spielt diesen zweiten Satz sehr, sehr traurig, obwohl es nur eine Canzonetta ist, natürlich nostalgisch und sentimental. Aber hier ist es die richtige Summe an Sentiment… das ist auch keine alte Aufnahme… es ist jemand, der versucht, jemanden anderen zu imitieren: Das stört mich ein bisschen, obwohl es sehr schön gespielt und musiziert ist – aber ich würde sagen, nicht ganz so ehrlich. Hier hat jemand eine schöne alte Aufnahme gehört und versucht jetzt so zu spielen. Das ist nicht der direkte Weg vom Komponisten zum Geiger, sondern es gibt einen Mittelsmann… wer ist das? David Garrett… ein Supergeiger, muss ich sagen. Obwohl sein Weg, den er genommen hat, zweihundert Kilometer von meinem entfernt ist, schätze ich sein Talent sehr. Jeder muss nach seinem Zuhause suchen und bestimmt ist das, was er tut, richtig für ihn.