Startseite » Interviews » „Barockmusik war wie eine Rede konzipiert“

Interview Giovanni Antonini

„Barockmusik war wie eine Rede konzipiert“

Alte Musik klingt bei Giovanni Antonini stets unglaublich frisch. Von der Originalklang-Debatte hält der Italiener jedoch wenig

vonEcki Ramón Weber,

Energiebündel, Feuerkopf, scharfsinniger Analytiker: Giovanni Antonini präsentiert Beethoven-Sinfonien als spannende Dramen und Musik von Vivaldi mit einer Intensität, als ob es Jazz wäre. Mit seinem Ensemble Il Giardinio Armonico sorgt der Mailänder Dirigent und Flötist seit über einem Vierteljahrhundert für frischen Wind in der historischen Aufführungspraxis. Jetzt hat er sich vorgenommen, sämtliche Haydn-Sinfonien einzuspielen.

Herr Antonini, Sie sind heute einer der führenden Vertreter historischer Aufführungspraxis. Wie würden Sie Ihren eigenen Ansatz charakterisieren?

Als dritte Generation in der historischen Aufführungspraxis haben wir natürlich die Möglichkeit, auf der Arbeit von Pionieren wie Nikolaus Harnoncourt, Gustav Leonhardt oder Frans Brüggen aufzubauen. Selbstverständlich beginnen aber auch wir noch immer bei den Quellen, den Originaldrucken und Handschriften, und versuchen, die ästhetischen Konzepte zu verstehen. Diese Erforschung wird nie aufhören. Wie allerdings wirklich in der Vergangenheit gespielt wurde, kann niemand sagen, da wir keine Schallaufnahmen aus der Zeit von Monteverdi, Vivaldi oder Bach haben. Dieser Versuch einer Authentizität war in den letzten Jahren auch gar nicht mehr der Fokus.

Worum ging es stattdessen?

Wenn ich auf die Erfahrungen zurückblicke – nicht nur mit Il Giardino Armonico, sondern auch von anderen Ensembles vor uns – kann man sagen, dass wir wirklich etwas Modernes hervorgebracht haben, etwas, das den Hörer von heute ansprechen kann. Ob diese Annäherung im historischen Sinn richtig ist, kann letzten Endes gar nicht entschieden werden. Die Barockmusik war wie eine Rede konzipiert: Das Faszinierende ist, diese musikalische Rhetorik zu verstehen und zu versuchen wiederzugeben, was nicht in der Partitur notiert ist.

Sie meinen die Kunst der Verzierung?

Die Verzierungskunst und damit die Improvisation sind sehr wichtig. Wir haben von Tartini oder Vivaldi, auch von Bach, viele Beispiele notierter Verzierungen. Doch was heißt das? Nehmen Sie etwa Improvisationen der Jazz-Musik, zum Beispiel des legendären Jazz-Saxophonisten Charlie Parker: Wenn man Transkriptionen seiner Soli mit den Schallaufnahmen vergleicht, hört man dort viel, was in den Transkriptionen überhaupt nicht auftaucht. So ähnlich ist es auch in der Barockmusik: Das Wissen über diese Verzierungen alleine reicht nicht. Man muss auch Kreativität einsetzen, um das wiederzugeben, was nicht in den Partituren steht.

Jazz ist ein gutes Stichwort. Wenn sie als Solist mit der Flöte auftreten, wirken Sie auf der Bühne tatsächlich wie ein Jazz-Musiker.

Es freut mich, dass Sie das beobachtet haben. Dies genau ist es, was ich versuche: Die Barockmusiktradition war ja lange Zeit tot und musste erst wiederbelebt werden – das heißt, es gab keine kontinuierliche Aufführungspraxis. Ich sehe mir deshalb auch lebendige Musiktraditionen an, nicht nur Jazz, sondern auch Ethno-Musik. Ich möchte kein Crossover machen, probiere auch nicht, ein Jazz-Musiker zu sein, weil ich keiner bin. Aber ich versuche, eine ähnliche Haltung zu haben: ganz im Moment zu spielen. Ich kann mir vorstellen, dass Frescobaldi, Vivaldi oder Bach improvisierten und ihre Musik jedes Mal etwas anders spielten.

Sie haben Ethno-Musik erwähnt. Welche Impulse haben Sie hier für sich gefunden? 

Ich denke da an Verbindungen zur Tanzmusik. Ende der 90er Jahre habe ich bei einer Produktion mit irischer Folklore mitgewirkt. Damals habe ich das Konzept verstanden, rhythmisch geringfügig ungleich zu spielen, was bei der Artikulation in der französischen Barockmusik als inégalité bezeichnet wird. In den späten 80er Jahren haben mich außerdem einige italienische Freunde, die indische Musik spielten, eingeladen, als Flötist mitzuwirken. Dabei lernte ich die indische Tabla mit ihrer großen Palette an Klangfarben kennen. Bei dieser Art der Improvisation werden unterschiedliche Klänge erforscht. In gewisser Weise übertrage ich solche Erfahrungen auf meine Herangehensweise in der Alten Musik.

Sie haben 2014 die CD- und Aufführungsserie „Haydn 2032“ in Angriff genommen. Dabei werden bis zum Jahr 2032, Joseph Haydns 300. Geburtstag, alle seine 107 Sinfonien auf Original-instrumenten eingespielt. Was erhoffen Sie sich von diesem Projekt?

Meine Hoffnung ist, dass jede CD in dieser Reihe interessant für das Publikum und für uns Musiker sein wird. Denn manchmal gibt es bei Gesamtaufnahmen die Gefahr, dass man in Routine verfällt. Unsere Herangehensweise ist nicht chronologisch, sondern wir versuchen, etwas Konzeptionelles für jedes Album zu machen. Mir liegt nicht daran, enzyklopädische Dinge zu produzieren, die man sich nur ins Regal stellt. Ich möchte, dass der Hörer jede CD wirklich mit Spannung vom ersten bis zum letzten Track hören kann.

Wie setzen Sie das konkret um?

Die erste CD, die 2014 erschienen ist, hat den Titel La passione, nach der gleichnamigen Sinfonie Nr. 49. Dieser Titel stammt zwar nicht von Haydn, doch ich versuche, dies im Sinne menschlicher Leidenschaften zu übersetzen. Diese Sinfonie und die Sinfonie Nr. 39, beide aus den 1760er Jahren, werden oft als Sinfonien der Sturm-und-Drang-Periode bezeichnet. Aber ich finde, sie haben viel mehr Bezüge zur Musik des Opernreformers Christoph Willibald Gluck. Deshalb haben wir sie Glucks Ballettmusik Don Juan aus dem Jahr 1761 gegenübergestellt.

An diesem Haydn-Zyklus nehmen Il Giardino Armonico und das Basler Kammerorchester teil. Wie ist das Projekt organisiert?

Die ersten CDs werden von Il Giardino Armonico eingespielt, danach werden mehrere mit dem Basler Kammerorchester aufgenommen. Interessant wird bei „Haydn 2032“ nicht zuletzt der Unterschied zwischen beiden Ensembles unter dem gleichen Dirigenten sein. Für die Zukunft denken wir darüber nach, beide Ensembles zusammenspielen zu lassen, etwa für Haydns Londoner und Pariser Sinfonien, die ein größeres Orchester erfordern.

Alle Haydn-Sinfonien in originalgetreuer Besetzung – das gab es als Gesamteinspielung noch nie. Was ist darüber hinaus das Neue, das Sie einbringen? 

Haydns Sinfonien sind wie Barockmusik, sie erfordern eine bestimmte Art von Klangrede. Wie bei Vivaldi wirkt manches in der Partitur zunächst banal. Aber dann entdeckt man das, was nicht in der Partitur notiert wurde. Ich versuche zu verstehen, welche Gesten sich dahinter verbergen, Dramatisches, Komisches, sogar Groteskes. Das ist mitunter sehr theatral.

Sie geben weltweit Gastspiele und unternehmen viele Konzerttourneen. Solche Reisen können anstrengend sein. Wie laden Sie Ihre Batterien wieder auf?

Es klingt vielleicht banal: Indem ich gute Musik mache – das erfüllt mich. Selbst wenn ich während des Tages müde bin: Sobald ich im Konzertsaal bin, habe ich plötzlich wieder Energie.

Treiben Sie Sport als Ausgleich?

Früher habe ich verschiedene Dinge ausprobiert wie Feldenkrais und Yoga. Eine Zeitlang war ich auch fasziniert von Tai Chi – doch dafür braucht man einen Trainer, und wenn man auf Reisen ist, ist dies schwierig. So bin ich augenblicklich auf der Suche nach etwas, was ich auch alleine auf Reisen praktizieren kann …

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!