„Ich fühle mich etwas schuldig“ sagt Gidon Kremer nach 45 Minuten unseres Gesprächs im Berliner Hyatt Hotel, „schuldig, meiner jüngsten Veröffentlichung nicht gedient zu haben.“ Sicher, Kremers Alben bieten immer Anlass zu vielen Fragen, doch überwiegt an diesem Tag das Interesse an einem anderen Thema: der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik. Denn da gehört der Geiger zu den wenigen Musikern, die klar Stellung beziehen. Und er hat – anders als viele Künstler, die ihre Interviews im Nachhinein glätten – kein einziges seiner deutlichen Worte zurückgenommen.
Sie äußern sich in Ihren Interviews nicht selten kritisch, auch zu politischen Themen. Wie vorsichtig muss heute ein Künstler sein mit den Worten, die er wählt?
Gidon Kremer: Das ist eine gute Frage – und ich werde präzise antworten, in dem ich sage: Man muss ehrlich bleiben. Ehrlich und keinesfalls gleichgültig. Wir leben in einer Zeit, in der man sich um vieles Sorgen machen kann oder muss und wenn man die Möglichkeit hat, darüber etwas zu vermitteln, ist es wichtig, dass man dazu steht. In einem totalitären Land könnte das gefährlich sein, aber ich lebe ja in der ganzen Welt und entgehe dadurch dieser Gefahr. Ich glaube, für einen Künstler ist es eher gefährlich, sich von der Dramatik des Alltags abzuschirmen und in einem Elfenbeinturm zu arbeiten oder zu leben.
Vergangenes Jahr lud das Toronto Symphony Orchestra die Pianistin Valentina Lisitsa wieder aus, nachdem sie sich im Internet kritisch über die ukrainische Regierung geäußert hatte.
Gidon Kremer: Ich kenne die Geschichte, aus meiner Sicht ist sie es aber nicht wert, viel darüber zu sprechen, da in dem Lärm von Valentina Lisitsa sehr viele unschöne Worte vorkommen. In diesen Worten, mit denen sie ihre Musik verziert, höre ich mehr Hass als Liebe. Für mich zeigt sich darin die Gefahr, dass sich junge Künstler auf Dinge einlassen, die ihnen viel Erfolg, Publizität, Geld und Ruhm einbringen; dass sie bestimmte Dinge tun oder sagen, weil sie sich gut verkaufen. Es gibt viele Instrumentalisten, die bewundernswert Geige, Cello oder Klavier spielen, die aber nichts zu sagen haben. Trotzdem lauscht ihnen das Publikum voller Euphorie und die Veranstalter verkaufen ihren Namen wie Fast-Food…
…weil das Publikum die Namen aus den Medien kennt.
Gidon Kremer: Ich verfolge ja auch die Medien, ich bin selbst davon angesteckt und ärgere mich dann manchmal über Dinge, die ich lieber gar nicht wissen will. Zum Beispiel hat sich Valentina Lisitsa auf das Experiment eingelassen, einer großen Öffentlichkeit ihr Üben über Youtube zu zeigen – für mich ist das ein Merkmal, dass ihr etwas ganz Anderes wichtig ist, als die Musik: Es ist ein Merkmal dieses ungesunden Narzissmus, der heute sehr verbreitet ist, sei es in offener Kleidung, im Geschwätz oder in Videoclips.
Klappern gehört eben zum Handwerk.
Gidon Kremer: Da bin ich als älterer Kollege vielleicht etwas zu konservativ, ich stehe für andere Werte. Deswegen ist mir ein junger Pianist wie Daniil Trifonov so sympathisch, weil er dieses Geschäft nicht betreibt. Er spielt zwar auch viel zu viele Konzerte und läuft dadurch Gefahr, sich kaputt zu machen – aber er verfällt nicht der Masche, sich durch irgendeine politische Äußerung Publicity zu verschaffen. Ich bin bereit, Andersdenkende, anders fühlende Menschen zu akzeptieren: Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft, jeder darf seine Meinung haben. Aber auf dem Pferd dieser Meinung zu reiten, finde ich gefährlich, auch für einen Künstler. Weil man sich anderen Dingen widmen sollte.
Nun trifft es aber nicht nur junge aufstrebende Künstler: Auch jemand wie Valery Gergiev gerät aufgrund seiner politischen Einstellung immer wieder ins Kreuzfeuer.
Gidon Kremer: Das ist kein Zufall: Jemand, der sich dermaßen klar äußert und eine Regierung unterstützt, die – das ist ja bewiesen – ständig lügt… Musik als solches sollte doch mit der Wahrheit verbunden werden: Ich kann mir kaum eine gelogene Musik vorstellen, oder gelogene Musik genießen. Wir als Interpreten sollten uns eigentlich bewusst sein, dass wir Diener sind von denen, die wahrhaftige Musik geschrieben haben. Und jemand, der sich für einen lügenden Menschen einsetzt, kommt bei mir in den Verdacht, dass er entweder etwas nicht versteht oder dass er selbst zu einem Lügner wird.
Können Sie den Zwiespalt nachvollziehen, in dem sich manche Kulturschaffende in Russland befinden? Schließlich haben Sie zu Sowjetzeiten selbst auf Parteitagen musiziert…
Gidon Kremer: …das kam zum Glück nur selten vor, weil ich nicht zu jener Elite gehörte, die zu Parteitagen eingeladen wurde. Dass Künstler dort spielten, war Sitte, auch meine sehr verehrten älteren Kollegen haben das getan, Oistrach selbstverständlich und sogar auch Svjatoslaw Richter.
Hätten Sie als Musiker denn Nein sagen können?
Gidon Kremer: Ich wäre zu der Zeit wahrscheinlich nicht fähig gewesen, öffentlich Nein zu sagen. Doch es gab auch andere Beispiele, wie die Pianistin Maria Yudina, eine fantastische Person: Letztes Jahr sind all ihre Briefe erschienen, die auch zeigen, wie viel Kraft sie aus dem Glauben geschöpft hat und was für eine starke Persönlichkeit sie war. Das war ein Mensch gegen einen ganzen Staat. Aber sie ließ sich nicht zermahlen durch die Mühle der Ideologie, sie blieb eine anständige, eine gläubige und große Künstlerin, sie blieb ein Mensch.
Wenn Sie heute mit russischen Kollegen zusammen sind, diskutieren Sie dann viel über Politik oder sagen Sie: Wir machen Musik, die Politik bleibt draußen?
Gidon Kremer: Mir bedeutet die russische Kultur und die russische Sprache sehr viel. Ich habe in meinem Leben wahrscheinlich mehr Russisch gesprochen als meine Muttersprache Deutsch und ich bewundere Komponisten wie Alfred Schnittke, Victor Kissine und ebenso Künstler wie die russischen Regisseure Oleg Dorman und Juri Norstein. Es sind Persönlichkeiten, die zu ihrer Meinung stehen, egal ob still oder laut. Es gibt aber auch jene, bei denen ich die Spekulation durchschaue, die mit den Mächtigen der heutigen Zeit liebäugeln: Denen gehe ich lieber aus dem Weg.
Sie musizieren dann nicht mehr zusammen?
Gidon Kremer: Mit einigen von denen, die auf der Liste der 500 stehen…
… jener russischen Künstler, die seinerzeit in einem Brief an das russische Kulturministerium die Annexion der Krim durch Russland ausdrücklich gelobt haben…
Gidon Kremer: … war ich früher befreundet, ich habe gerne mit ihnen musiziert. Aber seit sie sich für so einen radikalen Weg entschieden haben, die Regierungsmacht zu unterstützen, tue ich das nicht mehr. Ich will mit dieser negativen Energie nicht in Berührung kommen und mit ihnen nicht auf einer Bühne stehen. Es ist ganz klar, dass Valery Gergiev enorme Energien hat, ich habe mit ihm viele Konzerte gespielt und wir konnten in der Vergangenheit eine gemeinsame Sprache sprechen. Aber heutzutage will ich nicht in dieses Energiefeld kommen, das er verbreitet. Ich habe genug andere, wunderbare Kollegen, mit denen ich meine Sicht der Welt teile. Und wie gesagt: In der Musik kann ich weder Unehrlichkeit, noch Lügen, noch Aggression Platz lassen. Ich suche eine andere Sprache, eine Sprache des Verständnisses, des Brückenbaus und der Versöhnung.