Wenn es jemanden gibt, dessen Ohren so fein justiert sind, dass sie gleichzeitig Wärme, Subtilität, donnerndes Glockenforte und fast unhörbares Obertonmitschwingen völlig in sich aufnehmen können, dann ist es Francesco Piemontesi. Der in Locarno geborene Pianist gehört zu einer Generation, die fast vergessene Aufnahmetechniken wiederentdeckt und den sogenannten „perfekten Klang“ hinterfragt.
Ob Liszt, Schubert oder Messiaen: Ihr Output an Aufnahmen ist beachtlich. Dabei mögen Sie gar nicht „diesen ganzen digitalen Kram“ auf CD, wie Sie einmal sagten.
Francesco Piemontesi: Der Punkt ist, dass die Technologie von heute zu sehr auf den perfekten Klang fixiert ist. Es gibt so viele Informationen, jeder Parameter soll präzise eingefangen werden. Ich möchte von diesem Wahnsinn wegkommen. Musik besteht ja nicht nur aus Klang, sondern aus vielen Optionen, aus Fragezeichen. Das hört man sehr gut bei alten Aufnahmen von Alfred Cortot oder Edwin Fischer. Da gibt es immer wieder Momente, wo man nicht alles genau hört und vielleicht auch ein paar Schatten herumhuschen. Auch bei Konzerten kann das passieren, wenn man gerade mal nicht in der ersten Reihe sitzt. Manches ist eventuell nicht so klar zu hören, aber dafür ist die Atmosphäre eine ganz besondere. Das ist ein bisschen so wie bei den Malern der Renaissance, wo Dinge im Schatten verschwinden und Sie selbst ergänzen müssen, was da wohl sein könnte. Ihr Gehirn muss das konstruieren.
Wie muss man sich Ihr Klangideal vorstellen?
Piemontesi: Mich fasziniert die Technik, die Decca etwa um 1950 genutzt hat. Als Referenz würde ich die Aufnahmen von Wilhelm Kempff nennen, die er in London eingespielt hat: Sie sind wunderbar warm, nicht so steril. Man hört nicht jedes Detail, jedes kleinste Geräusch, sondern eher ein Gesamtbild. Ein weiteres Beispiel: Alfred Brendel hatte ein Mikrofon von AKG, das er zu Hause für private Aufnahmen nutzte. Es ist wirklich erstaunlich, weil man sich ganz auf die Musik konzentrieren kann. Man hört plötzlich die Struktur, Bewegungen, Atmosphäre. Ich möchte in der Zukunft auch mehr Experimente in diese Richtung machen.
Wie hören Sie Musikaufnahmen am liebsten?
Piemontesi: Nun, wir haben eine schöne Hifi-Anlage zu Hause. Das meiste kommt von CD, also physischen Tonträgern. Da ich aber viel unterwegs bin, höre ich das meiste per Computer auf Kopfhörer. Das Schöne ist, dass man auf Kanälen wie Youtube Aufnahmen findet, die offiziell nicht mehr erhältlich sind. Da kann man fantastische Sachen entdecken, auch alte Rundfunkmittschnitte, zum Beispiel von Wilhelm Kempff. Früher ging das nur, wenn man Zugang zu einem Rundfunkarchiv hatte. Das war aufwendig und man musste sich da durchkramen.
Erinnern Sie sich an Ihre allererste eigene CD oder Schallplatte?
Piemontesi: Das war, glaube ich, eine CD von Claudio Arrau. Und dann kam sofort eine Aufnahme, die meine Eltern durch Zufall gefunden haben: Rachmaninows zweites und drittes Klavierkonzert mit dem amerikanischen Pianisten Abbey Simon und dem Saint Louis Symphony Orchestra unter Leonard Slatkin, noch analog in den Siebzigern aufgenommen und auf CD wiederveröffentlicht. Die höre ich noch heute gerne. Dazu muss man natürlich anmerken, dass die CD-Player damals noch wahnsinnig teuer waren. Wir haben ein paar Jahre gewartet und dann erst einen gekauft.
Von der Technik der Produktion nun zur Technik des Spiels. Wie stehen Sie zum Begriff „Perfektion“?
Piemontesi: Also, ich weiß eigentlich gar nicht, was das ist. Ich würde mich sicher nicht als Kontrollfreak bezeichnen, diese Mentalität liegt mir fern. Ich glaube, es ist einfach die Liebe zu jeder Note, die man spielt. Je mehr man jede Note spürt und je mehr man weiß, wie jede Note zu sein hat, hört man die Musik zunächst in seinem Inneren, noch bevor man die Tasten berührt. Wenn ich an einem Stück arbeite, dann versuche ich erst einmal, die Grundzüge zu erforschen. Ich setze mich einfach ans Klavier und fange an, das ganze Stück durchzuspielen, wieder und wieder. Irgendwann ergibt sich die Form, und dann erst fange ich an, an den Details zu arbeiten, an den Phrasierungen. Es ist doch erstaunlich, wenn man sich selber zuhört, ob bei einer Aufnahme oder live, wie präzise das dann alles wird. Bevor ich die jeweilige Note spiele, höre ich sie ganz genau, wie ich sie haben will. Wenn sie dann erklingt, also die Imagination ins Physische übergeht, kann ich überprüfen, ob die Imagination funktioniert oder ich sie eventuell korrigieren muss. Das ist ein Prozess.
Sie sind am Lago Maggiore aufgewachsen. Inwieweit hat Ihre Heimat Ihre künstlerische Seele berührt?
Piemontesi: Ich bin wie ein Fisch aufgewachsen und war ständig auf dem Wasser oder im Wasser. Es ist ein Element, das man in Programmen fantastisch einbauen kann. Spiegelungen und Wogen wie bei Debussy, ein beschwingter Donau-Walzer wie bei Johann Strauss oder tanzende Schneeflocken wie bei Tschaikowsky. In der Natur liegt Inspiration, ganz sicher. Das finden Sie in äußerst spezieller Art auch bei Olivier Messiaen, der den Gesang der Vögel studierte und mit diesem Material komponierte. Das ist so ergreifend, mit so vielen Farben gesättigt, dass man abtauchen möchte in diesen Kosmos. Wenn man sich am Anfang die Noten anschaut, denkt man: Oh Gott, diese ganzen Repetitionen! Er wiederholt zwanzigmal die gleiche Frage, wo bleibt die Antwort? Aber es ist magisch wie bei einem Mantra, einer Meditation. Weit weg, fast himmlisch, wie in einem Traum.
Träumen Sie viel? Erinnern Sie sich an wiederkehrende Motive, Situationen?
Piemontesi: Nein, eigentlich nicht. Ich habe auch keine Albträume, zum Glück. Sowas wie die furchtbare Situation, dass ich zu einem Konzert zu spät komme. Aber manchmal, wenn ich spiele, versinke ich tatsächlich kurz in Tagträume, eine Art Schwebezustand. Man muss nur aufpassen, dass man nicht zu lange darin stecken bleibt. Manchmal passiert das wirklich in einem Konzert, dass die Finger irgendwie von allein weiter machen. Wenn es besonders gut läuft und man loslässt, hat man das Gefühl, dass alles vollkommen vertraut ist, dass alles klappt und man gar nichts mehr machen muss. Das ist ein schöner Zustand. Der Saal klingt gut, das Instrument ist perfekt intoniert und das Publikum hört aufmerksam zu. Das ist nicht bei jedem Abend so, aber wenn das passiert, dann ist es fantastisch!
Sie haben ein außergewöhnliches Hobby: Sie sammeln Glocken. Was hört Ihr geschultes Ohr da?
Piemontesi: Diese Faszination kam schon auf, als ich noch ein Kind war. Das ist ein Teil unseres Erbes, unserer Kultur in der Schweiz. Meine Eltern erzählten mir, dass ich bei Spaziergängen ständig vor den Glockentürmen stehengeblieben bin. Ich durfte auch mal raufgehen und mir diese mächtigen Klangungetüme anschauen. Später habe ich die Glocken aufgelistet, systematisiert und sogar eine Datenbank angelegt. Und ich lese Fachliteratur zu den Glocken aus unserer Region. Es gibt historische Bücher, die teilweise aber ein bisschen veraltet sind. Wer weiß, vielleicht schreibe ich selbst mal ein Buch über das Thema? Dann wäre ich ein richtiger Campanologe, wie man die Glocken-Spezialisten bezeichnet. Was mich am Klang dieser Instrumente fasziniert, sind die Obertöne: Man sucht nach dem obersten Ton, der mitschwingt. Dieses Hören und Spielen über den Grundton hinaus versuche ich manchmal am Klavier zu imitieren. Singen auf dem Klavier sagt man dazu. Ich mag das sehr.