Seit 2018 ist der deutsche Jurist und Diplomat Felix Klein Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. In seiner Freizeit ist der Sohn eines professionellen Orchestergeigers aus Hermannstadt Mitglied des „Diplomatischen Streichquartetts Berlin», das sich vorrangig mit Werken jüdischer Komponisten befasst.
Sie sind studierter Völkerrechtler, haben über „Eherecht und Ehewirklichkeit in Kamerun“ promoviert. Woher kommt Ihr Interesse am jüdischen Leben in Deutschland?
Felix Klein: In Darmstadt auf der Schule gab es zwei jüdische Mädchen, deren Familien-Traditionen mich sofort faszinierten. Auf dem Internat in Italien war ich mit einem kanadischen Juden befreundet. Meine erste Reise nach Israel machte ich als Jugendlicher mit unserem Jugendorchester. Die erste Klarinettistin des Staatsorchesters in Darmstadt stammte aus Haifa und hatte den Auftritt für uns arrangiert. Diese Begegnungen und Erlebnisse haben mich geprägt und mein Interesse am Judentum begründet.
Wie antisemitisch war Johann Sebastian Bach in seinen Passionen? Schließlich spiegelt sich dort auch Martin Luthers hasserfüllte Sicht auf die Juden.
Klein: Bach war ein Kind seiner Zeit, er hat die Thesen aufgegriffen, die in der Kirche verbreitet waren.
Felix Mendelssohn Bartholdy, selbst ein getaufter Jude, hatte offenbar kein Problem damit, als er die Matthäus-Passion wiederbelebte.
Klein: Er war auch den überlieferten Quellen zufolge überwältigt von der Musik. Heute aber gibt es Bestrebungen, Bachs Werk sozusagen vom Antisemitismus zu „reinigen“ …
… wie in einer Aufführung der Johannes-Passion im Berliner Dom 2012, in der Arien-Texte durch Gedichte von Celan, Lasker-Schüler und durch jüdische Gebete ersetzt wurden…
Klein: … ich hatte davon gehört.
Stichworte: „cancel culture“, „trigger warning“. Muss Kunst heutigen Erwartungen angepasst werden? Ist das nicht auch eine Form der Zensur?
Klein: Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich nicht wirklich eine Antwort habe. Das Werk im Kontext seiner und unserer Zeit zu sehen, ist sicherlich eine sinnvolle Art der Annäherung. Aber ich gebe Ihnen Recht, es darf nicht ideologisch werden. Es hat allerdings auch niemand für den richtigen Umgang eine Blaupause.
Kürzlich sollte die Berliner U-Bahn-Station Mohrenstraße in Glinkastraße umbenannt werden. Dann stellte man fest, dass Michael Glinka wohl ein Antisemit war. Müssen wir jetzt alle Richard-Wagner-Straßen umbenennen? Und wie ist es mit Chopin, Schumann, Tschaikowsky, die sich auch antisemitisch geäußert haben?
Klein: Antisemitismus war in weiten Teilen des Bürgertums im 19. Jahrhundert sehr verbreitet und akzeptiert. Das kann man nicht wegretuschieren, indem man nur Namen ändert. Viel problematischer finde ich, wenn ein Platz nach einem Menschen benannt wird, der im Dritten Reich eine bedeutende Funktion hatte. Ich denke da etwa an Agnes Miegel, die hohe Positionen im NS-Kulturbetrieb innehatte, in ihren Gedichten völkisches Gedankengut verbreitete und nach dem Krieg sich nicht davon distanzierte. Mit dem 19. Jahrhundert würde ich nachsichtiger sein, denn da hatte der Holocaust noch nicht stattgefunden. Aber auch da gibt es aus meiner Sicht schwer erträgliche Reminiszenzen. Ich finde es skandalös, wenn der Historiker Heinrich von Treitschke, ein glühender Antisemit, dessen Hetzparolen von den Nazis verwendet wurden, immer noch mit einer großen Straße in Berlin geehrt wird.
Bei Richard Wagners „Groll gegen diese Judenwirthschaft“ hätten Sie heute sofort den Staatsanwalt eingeschaltet. Denn er machte den modernen Antisemitismus salonfähig, auch weil er nicht mehr religiös begründet wurde, sondern anhand der „biologischen Natur“ der Juden.
Klein: Da gebe ich Ihnen absolut recht! Das würden wir tun.
Wie definiert die Bundesrepublik denn heute Antisemitismus?
Klein: Die Bundesregierung empfiehlt die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Im Vordergrund steht eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich in Form von Ressentiments oder offenem Hass artikuliert. Danach kann jemand auch antisemitisch beleidigt werden, der kein Jude ist.
In den Medien wird der Antisemitismus fast ausschließlich dem rechtsradikalen Milieu zugeordnet, in dem die Holocaust-Leugnung weit verbreitet ist. Sie aber verorten ihn auch im muslimischen und im linksliberalen Milieu, in der Mitte der Gesellschaft. Können Sie das erklären?
Klein: Wir müssen jede Art von Antisemitismus benennen und bekämpfen. Ich wende mich entschieden gegen eine Hierarchisierung. Anfangs wurde ich gefragt, welcher Antisemitismus denn der gefährlichste sei. Das kann man so nicht beantworten. Die meisten Straftaten werden den Rechtsextremisten zugeordnet. Aber der linke Antisemitismus, der dem Staat Israel sein Existenzrecht abspricht, ist keineswegs ungefährlich, weil er subtiler daherkommt und oft im universitären akademischen Milieu verankert ist. Aber auch dieser kann sich in terroristischen Straftaten manifestieren: Der Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum 1967 in Berlin etwa war linksextremistisch motiviert. Auch der Antisemitismus unter Muslimen ist nicht zu unterschätzen, wie wir bei den Demonstrationen auf deutschen Straßen im Zusammenhang mit dem Israel-Gaza-Konflikt gesehen haben.
Stichwort: Achille Mbembe, der 2020 die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale halten sollte …
Klein: Vor dem Hintergrund einiger äußerst problematischer Texte, die Herr Mbembe zu Israel und seiner Besetzungsherrschaft im Westjordanland veröffentlicht hatte, habe ich seine Eignung als Eröffnungsredner bei diesem wichtigen staatlich subventionierten Festival infrage gestellt. Dafür wurde ich heftig kritisiert. Letztlich wurde die Veranstaltung dann aber aufgrund von Corona abgesagt.
Wurden Sie bedroht?
Klein: Nicht direkt, aber es kursierten hässliche Fotomontagen von mir mit Kippa und Blut, das aus meinem Mund trieft.
Björn Gottstein, der Leiter der Donaueschinger Musiktage, lehnte 2018 ein israelkritisches Werk des Komponisten Wieland Hoban ab und sagte: „Israelbezogener Antisemitismus ist die aktuell gängigste Form des Antisemitismus – auch in Deutschland“.
Klein: Das stimmt. Laut Erhebungen haben etwa 40 Prozent der Deutschen in Bezug auf Israel eine latent antisemitische Einstellung. In der Art: „Die Israelis sind ja nicht besser als die Nazis“. Dieser Relativismus aber hat in Deutschland, im Land der NS-Täter, etwas Schuldentlastendes. Und das dürfen wir nicht akzeptieren. Doch zurück zur Hierarchisierung. Es bringt nichts, wenn man den einen Antisemitismus gegen den anderen ausspielt. Dann kehrt keiner mehr vor der eigenen Haustür.
In welche Art des Antisemitismus ordnen Sie den Gangsta-Rap des zum Islam konvertierten Künstlers Kollegah, der dazu führte, dass der Echo-Preis abgeschafft wurde?
Klein: Dieser Antisemitismus kommt vor allem aus einer migrantisch geprägten Subkultur mit einem sehr starren Männlichkeitsbild, das Gewalt und Kriminalität glorifiziert. Das fasziniert viele Jugendliche, auch nicht-muslimische.
Im April 2018 sagten Sie der Bild-Zeitung: „Viele der Flüchtlinge wurden in Ländern sozialisiert, in denen ein Hass-Bild von Juden und Israel gezeichnet wird. Dieses Bild haben sie nicht an der Grenze abgelegt“.
Klein: Ja, das habe ich so gesagt. Unsere große Herausforderung heißt Integration. Dies bezieht sich aber nicht nur auf Geflüchtete, sondern ebenso auf Bevölkerungsgruppen, die in der dritten Generation in Deutschland leben und einen deutschen Pass haben. Es muss klar werden, dass der Hass auf Juden, der mitunter in ihrem Herkunftsland bzw. dem ihrer Eltern und Großeltern staatlicherseits propagiert wird, in Deutschland nicht akzeptiert wird.
Deutschlands vielgelobte Erinnerungskultur wirkt mit ihren Warnungen und Appellen oft ritualisiert und schulmeisterlich, und manchmal wie der Ausdruck eines in die Vergangenheit gerichteten Pseudo-Widerstands, einer „retroaktiven Zivilcourage“. Wie können junge Menschen wirklich erreicht werden?
Klein: Mit OPERATION LEGENDÄR haben wir jetzt die Entwicklung eine XR-App gefördert, die im Stil einer interaktiven Graphic Novel spielerisch die Geschichte der ersten Synagoge für Christen und Juden in Seesen erzählte. Für Jung und Alt. Da Deutschland mittlerweile ein Einwanderungsland ist, müssen wir eine Erinnerungskultur entwickeln, die alle anspricht, auch vor dem Hintergrund, dass wir bald keine Holocaust-Überlebenden mehr haben werden. Gedenktage sind wichtig. Aber ich gebe Ihnen recht: Man muss die Menschen auch mit den Herzen ansprechen, individueller, und mehr ihren Blick darauf richten, was Deutschland damals verloren hat, in der Musik, in der Kultur, in der Wissenschaft.
An einer Stelle sagen Sie sogar „wir müssen davon wegkommen, beim Thema Drittes Reich allein über die Verfolgung der Juden zu sprechen und Juden immer nur als Opfer zu sehen.“
Klein: Absolut. Schüler und nicht nur sie sollen mehr über den Beitrag der Juden für die Stärke unseres Landes erfahren. Seit dem Jahr 321 haben die Juden unsere Kultur, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft mitgeprägt. Kaum einer weiß, dass beispielsweise ein Drittel aller Nobelpreise von 1933 nach Deutschland gingen und ein Drittel davon an Juden! Umso mehr freue ich mich, dass wir in diesem Jahr mit über 400 von der Bundesregierung geförderten Veranstaltungen auf 1.700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte zurückblicken.
Die Autorin Teresa Pieschacón Raphael ist Enkelin des jüdischen Komponisten Günther Raphael (1903-1960).