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Interview Fazıl Say

„Ich bin mit dieser Doppelrolle quasi allein“

Fazıl Say über seine Arbeit als Pianist und Komponist, das Musikleben in der Türkei und Ludwig van Beethoven.

vonIrem Çatı,

Er improvisiert über ­Mozart und Paganini, verarbeitet Bilder seiner Heimat in seinen Kompositio­nen und holt aus dem Klavier alles heraus, was die 88 Tasten zu bieten haben. Sein neuestes Album hat Fazıl Say aber ganz den Sonaten Beethovens gewidmet.

Warum ist es heute eher ungewöhnlich, dass ein Pianist gleichzeitig Komponist ist?

Say: Im 18. und 19. Jahrhundert war das noch absolut üblich, denken Sie etwa an Beethoven, Chopin, Liszt, Paganini oder Debussy. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg gab es vor allem unter Pianisten immer weniger Komponisten. Ich verkörpere diese Doppelrolle nun seit gut dreißig Jahren und bin damit quasi allein. Es gibt einige Komponisten, die dirigieren und damit auch Konzertkünstler sind.

Sie arbeiten häufig politische, religiöse oder geschichtliche Themen in Ihre Kompositionen ein. Wie wichtig ist Ihnen das?

Say: Sehr wichtig! In meinen Werken verarbeite ich oft Bilder von Städten wie in den Sonaten „4 Cities“ und „Troy“oder den Sinfonien „Istanbul“ und „Mesopotamia“. Aber auch Gedichte der berühmten Dichter Nâzım Hikmet und Metin Altıok habe ich vertont. Manchmal sind dies auch aktuelle Geschehnisse wie die Demonstrationen im Gezi-Park. Alles, was ich erlebe und was mich in meinem Leben beeinflusst, kommt als Musik aus mir heraus.

Warum geben Sie Ihren Werken so klare, sprechende Namen?

Say: Wen würde es interessieren, wenn ich über den Gezi-Park eine Sonate komponiere und sie nicht „Gezi-Park“ nenne, sondern nur Sonate? Auch die Sätze sind nach dem Geschehen benannt: „Von der Stille der Gaswolke“ oder „Von der Ermordung des unschuldigen Kindes Berkin Elvan“. Das ist alles eine Art musikalische Fotografie. Die Musik erzählt die Situation. Ich finde, ein Musiker, der das in seinem Konzert oder seiner Aufnahme erzählen möchte, sollte das alles wissen. Nehmen wir beispielsweise Beethovens Sonate op. 111. Sie hat keinen Namen. Wir wissen zwar, dass es um diese und die nächste Welt geht, aber wenn er sie auch so benannt hätte, würde das viel mehr helfen. Aber das war damals nicht ethisch. Jetzt – nach über 200 Jahren – leben wir in einer anderen Zeit.

Nehmen Sie den Künstlern dadurch nicht deren eigene Interpretationsfreiheit?

Say: Nein. Wenn ich von diesen Momenten erzähle, wird jeder Interpret diese anders wahrnehmen, anders fühlen als ich. Am Ende wird es anders klingen.

Fazıl Say
Fazıl Say

Sind Sie sehr kritisch, wenn Sie in den Proben Ihre eigenen Kompositionen hören?

Say: Kritisch nicht, aber wenn ich das Gefühl habe, dass beispielsweise das Tempo nicht stimmt oder die Musiker eine Stelle, eine Farbe oder einen Gestus nicht verstanden haben, greife ich ein. Dann muss man als Komponist mehr erklären. Eigentlich ist es ein Vorteil für die Musiker, wenn der Komponist bei den Proben dabei ist und erklärt. Ich wäre so froh, wenn Mozart und Beethoven mir erklären würden, was sie gedacht haben und wie sie gespielt hätten.

In der klassischen Musik gibt es nur wenige Werke, in denen Motive aus der türkischen Musik verarbeitet wurden. Was denken Sie darüber?

Say: Die erste Generation türkischer Komponisten, die sogenannten „Türkischen Fünf“ …

… Ferit Alnar, Necil Kâzım Akses, Cemal Reşit Rey, Ulvi Cemal Erkin und Ahmed Adnan Saygun, …

Say: … haben in ihren Werken Motive und Musikelemente aus der Folklore, türkischen Volksliedern oder religiöser Musik verarbeitet. Die Musiker der Generation danach, die unsere Lehrer waren, haben das auch gemacht, aber zum Teil sehr modern und abstrakt. Dass man diese Werke in Europa wenig kennt, ist der System­losigkeit und den Vorurteilen der Europäer geschuldet – und der Tatsache, dass sich die Türkei überhaupt nicht bemüht hat, die Komponisten in die westliche Kultur zu integrieren. Dass man die Werke aber auch in der Türkei wenig kennt, ist ebenfalls eine Systemlosigkeit und liegt daran, dass das türkische Bildungssystem ihnen nie einen Wert gegeben hat. Das bedeutet nicht, dass sie nicht gut genug sind! Meiner Meinung nach haben viele türkische Komponisten wirklich wertvolle Werke geschaffen, aber es gibt wenig Notenmaterial und wenige Aufnahmen. Leider sind diese Komponisten in ihren Institutionen wie den Konservatorien, Opernhäusern und Orchestern isoliert geblieben und haben wenig versucht, sich an das türkische Volk zu wenden. Daran sind sie ein bisschen selbst schuld.

Wie sieht es denn aktuell aus mit der klassischen Musik in der Türkei?

Say: Es gibt staatliche Konservatorien, Orchester und Opern­häuser. Städte wie Izmir oder Eskişehir haben eigene Kammerorchester. Es gibt auch private Institutionen wie die Bilkent-Universität oder den Großkonzern Borusan, die eigene Orchester gegründet haben. Manche Banken finanzieren Festivals. Es existiert also ein Musikleben. Allerdings haben es Absolventen der Musikhochschulen sehr schwer, einen Job in den Orchestern zu finden. Und es gibt zu wenig Geld, um die Weltstars der Szene einzuladen. Der Staat muss eigentlich ein Budget schaffen, um dies zu ermöglichen. Aber es fällt auf, dass in den letzten fünfzehn Jahren westlich geprägte Institutionen weniger gefördert wurden als islamische.

Wie könnte man das ändern?

Say: Mit einem guten System und einem guten Kultusminister. Natürlich könnte man nicht an einem Tag alles ändern, doch wenn wir jetzt anfangen, hätten wir in zehn Jahren etwas verändert. Aber das sehe ich noch nicht.

Eduard Zuckmayer hat während seines Exils in Ankara am Konservatorium gearbeitet. Er und Paul Hindemith haben die damalige Musikszene sehr geprägt. Haben Sie als Student von diesem Einfluss noch etwas mitbekommen?

Say: Hindemith wurde damals von Atatürk eingeladen, um die Konservatorien zu unterstützen. Die Schüler von ihm und Zuckmayer, die in Europa studieren konnten, haben entweder dort Karriere gemacht oder sind zurückgekommen, um zu unterrichten. Man kann aber nicht von einer Hindemith-Tradition sprechen oder davon, dass das Konservatorium in Ankara von einer deutschen Kultur beeinflusst war. Denn viele haben in Paris studiert und uns somit eine französische Tradition zurückgebracht.

Wie stehen Sie zur Literatur?

Say: Dank meines Vaters, der Schriftsteller ist, bin ich mit Dichtern, Schriftstellern und Literaturkritikern aufgewachsen. In meinen Zwanzigern habe ich angefangen, Vokalwerke mit Texten türkischer Dichter zu komponieren. Das ist das, was ich mit Literatur machen konnte. Sie ist eine meiner großen Interessen.

Sie spielen klassische Werke, aber auch Jazz, Weltmusik oder Improvisationen. Wo fühlen Sie sich am wohlsten?

Say: Das kann ich nicht sagen. Ich bin ein offener Musiker und Komponist. Offen für jede Musik­richtung. Das macht mein Leben aus, das gibt mir Kraft.

Sie bezeichnen Mozart als »Jahrtausendgenie«. Wie sieht es mit Beethoven aus?

Say: Beethoven war auch ein großes Genie. Ich habe alle seine 32 Sonaten aufgenommen. Das war eine schwierige Aufgabe!

Warum?

Say: Es ist technisch nicht leicht. Vor allem die späten Sonaten sind viel schwieriger als die Romantiker wie Liszt und Rachmaninow. Bei ihnen kann man sich mit dem Pedal aushelfen. Aber Beethoven hat sehr exakt komponiert, und das muss man viel üben. Der große Unterschied bei Beethoven ist auch, dass er sehr progressiv in seinem Leben war und sich immer weiterentwickelt hat. Ihm war nie genug, was er gerade machte.

Album-Tipp

Album Cover für Beethoven: Sämtliche Klaviersonaten

Beethoven: Sämtliche Klaviersonaten

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