Spätestens als Cristian Măcelaru 2012 in Chicago für Pierre Boulez einsprang und zweimal den „Solti Award“ für Dirigenten gewonnen hatte, begann für den Rumänen eine beispiellose Karriere. Von Amerika aus eroberte sich Măcelaru, der zunächst Violine studierte, nach und nach die wichtigsten Konzertpodien weltweit. Seit dieser Saison ist er Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters.
Vor dreißig Jahren fiel auch in Rumänien die Mauer. Was ist davon geblieben?
Cristian Măcelaru: Ich war zehn Jahre alt und kann mich durchaus an die Euphorie erinnern. Sie hatte weniger mit Konsum als vielmehr mit einem neuen Konzept des Zusammenlebens zu tun. In den Gesichtern war Hoffnung zu lesen. Aber die neue Freiheit wurde vielfach mit Chaos assoziiert. Heute bleibt für mich die Erkenntnis, dass eine Demokratie nur dann lebensfähig ist, wenn grundlegende Regularien in der Gesellschaft verwurzelt sind, zuvorderst Respekt für jedermann.
Sie sind zehn Geschwister. Waren die alle musikalisch?
Măcelaru: Wir hatten alle Instrumentalunterricht, drei meiner älteren Schwestern sind wie ich professionelle Musiker geworden, allerdings erst nach 1990, denn vorher war es sehr schwierig, Musik zu studieren, wenn man nicht Teil der Regierungspartei war. Ich hatte das Glück der späten Geburt.
Wie haben Sie die musikalische Grundausbildung in Rumänien erlebt?
Măcelaru: Als außerordentlich gut: durchaus streng, aber methodisch hervorragend. Die spezialisierten Musikschulen für Kinder existieren noch, aber an den weiterführenden Hochschulen bin ich jedes Mal schockiert über deren Niveau. Dieses System brach nach 1990 völlig zusammen, weil alle guten Lehrer Rumänien den Rücken gekehrt haben. So hatte auch ich selbst zu Hause keine Zukunft. Mehrmals pro Jahr fahre ich nach Rumänien und versuche, musikalische Bildungsarbeit zu leisten. Überall auf der Welt fehlt Geld, aber auch der Sinn dafür, junge Menschen positiv zu beeinflussen, was für sie und ihre Umgebung ein Leben lang nützlich ist. Musik lehrt uns, sensibel zu sein. Wenn wir doch das Geld, was wir für Waffen ausgeben, in Bildung investieren würden – wir bräuchten keine Waffen mehr.
Leider sehen nicht allzu viele Ihrer Kollegen so eine enge Verbindung.
Măcelaru: Wer Profimusiker wird, wächst schon als Kind damit auf. Vielleicht fragt man sich da nie, warum die Musik so wichtig ist, weil man sich gar nichts anderes für sich vorstellen kann. Ich hatte ein Jahr lang einen Zettel mit genau dieser Frage auf meinem Spiegel kleben. Darauf gibt es natürlich sehr komplexe Antworten, aber an erster Stelle steht, dass Menschen über Musik kommunizieren. Eine Linie oder Struktur zu begreifen bedeutet, viel mehr zu verstehen, als man mit Worten sagen kann. Ein weiterer Aspekt ist die Spiritualität. Wenn 2.000 Menschen in den Konzertsaal kommen, möchten sie sich konzentrieren, zuhören, meditieren. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist einmalig. Bei meinem Festival für zeitgenössische Musik starteten wir unlängst ein Experiment mit einem Auftragswerk für Orchester und Publikum: Die einen spielten, die anderen sangen. Wie von Zauberhand taten sie das unisono. Unglaublich! Wie kraftvoll es wäre, wenn jede Parlamentssitzung mit einem gemeinsamen Lied begänne! Ein Drittel aller Diskussionen würde gar nicht erst entstehen.
Vielleicht können Sie das in Köln einführen, wo Sie Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters sind?
Măcelaru: Sie können sicher sein, dass ich das Publikum so viel wie möglich in den Prozess unseres Musizierens einbeziehe. In Kalifornien öffnen wir wirklich jede Probe für zufällige Zaungäste. Jedes Mal sitzen dort sechs Stunden lang 300 bis 400 Neugierige, bei ausschließlich zeitgenössischen Stücken! Musik ist nicht dafür da, unser Leben schön zu machen. Sie stiftet Sinn.
Im klassischen Konzertbetrieb gibt es kaum Reaktionen außer dem Applaus.
Măcelaru: Deswegen funktioniert Publikumsentwicklung in zwei Schritten: Zuerst muss ich den Sinn der Kunst vermitteln und damit zu ihrem Genuss einladen. Danach kann ich mit einem kraftvollen Erlebnis die Botschaft der Komponisten transportieren.
Sie interpretieren nicht?
Măcelaru: Das beste Konzert ist, wenn ich völlig hinter der Musik verschwinde und die Musiker befähige zu transportieren, was in den Noten wirklich steht. Mein Job ist es, die Essenz zu kommunizieren. Mag manche „Interpretation“ auch noch so schön sein, wenn sie mit dem Geschriebenen nicht zusammenpasst, werde ich ärgerlich.
Gibt es wirklich noch Dirigenten, die das anders sehen?
Măcelaru: Natürlich spricht heutzutage niemand mehr aus, dass er sich als Neuschöpfer der Partitur begreift, nur weil er sie dirigiert. Aber ich kann Ihnen viele Beispiele nennen, wo schlechte Traditionen, Unkenntnis oder Ignoranz für große Missverständnisse sorgen. Besonders bei jungen Dirigenten geht der Trend dahin, das Geschriebene bewusst zu übergehen, um sich abzuheben. Damit entfernt man sich dann aber mehr und mehr von der Wahrheit. Wenn ich ein eigenes Statement vermitteln will, muss ich selbst eine Sinfonie schreiben. Es ist absurd, Mozart „verbessern“ zu wollen.
Dann dürften Sie aber auch nicht sein Requiem dirigieren.
Măcelaru: Doch, wenn ich kundtue, dass es die Fassung von Süßmayr ist. Einmal wurde ich schrecklich kritisiert, als ich Weberns Bearbeitung des „Musikalischen Opfers“ dirigiert habe. So könne man doch keinen Bach spielen! Aber es ist ja eben kein Bach mehr, sondern Webern: Warum haben Mozart, Mendelssohn oder Mahler ältere Werke neu orchestriert? Aus Respekt, um sie überhaupt wieder aufführen zu können, weil das Publikum damals nur neue Musik hören wollte. Dann sind sie die neuen Urheber, denen ich verpflichtet bin.
Wie wird man ein guter Dirigent?
Măcelaru: Was mir mein Lehrer mit auf den Weg gab, sage ich auch meinen Studenten: Bevor ihr aufs Podium steigt, lernt den Kontext von Werk und Klang kennen! Führt ein Instrument zur Meisterschaft, spielt zwei oder drei Jahre im Orchester, macht Kammermusik. Bei mir als Geiger hat dieser Prozess zehn Jahre gedauert. Letztlich ist es sehr einfach: Dynamik hat mit Kontext zu tun, Rhythmus und Artikulation mit Charakter, Harmonie mit Struktur. Das alles muss ich verinnerlicht haben, bevor ich ans Pult trete.
Sind die Orchester offen für Ihre Art zu dirigieren?
Măcelaru: Ich sage Ihnen sogar warum: weil ich nichts erfinde, was nicht dasteht. Und das abverlange, was dasteht. Notfalls gegen eingeübte Traditionen, aber ohne zu belehren. Fragen sind erlaubt. Die Musiker fühlen sich dann auf Augenhöhe, bringen selbst neue Aspekte ein, und sie haben viel zu sagen! Sie möchten mit Dirigenten arbeiten, die eine Idee haben. Dann ist ihr größtes Kompliment: Er lässt uns spielen.
Das macht doch jeder Dirigent.
Măcelaru: Das Kompliment meint: Die Musiker erkennen, dass sie befähigt werden, ihr Bestes zu geben im Sinne der Vision, die etwa die Hälfte eines guten Konzerts ausmacht. Die andere Hälfte steuern sie selbst bei.
Bringen Sie dieses hohe Verantwortungsbewusstsein auch der Musik Ihrer Heimat entgegen?
Măcelaru: Vor der Revolution war es für jedes Konzert in Rumänien Pflicht, mit Musik eines zeitgenössischen Komponisten zu beginnen. So gab es hunderte Uraufführungen und Stücke, die heute keiner mehr kennt. Nicht alle sind es wert, wieder aufgeführt zu werden. Aber doch viele. Es mag verrückt klingen, aber ich bin der einzige, der diese Stücke nach Jahrzehnten wieder spielt. Dabei muss man dringend unterscheiden zwischen „modern“ und „zeitgenössisch“: Das eine ist ein Stil, das andere der Zeitpunkt der Entstehung.
Sie haben keine Angst vor Eklektizismus?
Măcelaru: Das 21. Jahrhundert wird dadurch definiert sein, dass sich jede Strömung der Musikgeschichte wiederfindet. Es gibt alle Arten von Kompositionen unserer Zeit, im Stil von Bach bis Stockhausen. Wesentlich ist doch nur: Wir müssen Vertrauen aufbauen, dass Musikaufführungen in jedem Fall großartige Erfahrungen versprechen. Meine Traumsaison wäre die, in der es nur heißt: Dieses Orchester spielt mit dem Dirigenten, kommen und erleben Sie die Musik. Hauptsache, sie hat eine Botschaft.
Cristian Măcelaru dirigiert das WDR Sinfonieorchester: