Frau Huangci, wieso fiel Ihre Wahl einst auf das Klavier?
Claire Huangci: Ich hatte wie viele junge Musiker keine Wahl. Meine Eltern haben das damals für mich entschieden. Ich habe das Klavier gehasst, weil ich gesehen habe, dass viele Musiker in einem Orchester zusammenspielen und ich immer alleine war. Später habe ich eingesehen, dass es eigentlich immer mehr zu einem Teil von mir wurde. Mit sechzehn kam dann die Entscheidung, von der Musik zu leben.
Mit siebzehn sind Sie dann für Ihr Studium nach Deutschland gekommen.
Huangci: Ich habe acht lange Jahre die deutsche Sprache gemieden und mit allen nur Englisch gesprochen (lacht). In Hannover habe ich meine ersten Uni-Erfahrungen gemacht, hatte plötzlich die absolute Freiheit. Schnell haben sich Freundschaften entwickelt, die bis heute halten. Das war der Start meines heutigen Lebens…
…der von renommierten Lehrern begleitet wurde.
Huangci: Das waren Professor Arie Vardi in Hannover und natürlich Karl-Heinz Kämmerling, bei dem ich viele Meisterkurse besucht habe. Beide sind sehr unterschiedlich, auch in ihren Persönlichkeiten. Nur wenn es um die Musik ging, waren beide unglaublich ernst. Dazu war ich in einem Meisterkurs von Dmitri Baschkirow oder bei Stephen Kovacevich, der einer meiner liebsten Schubert-Interpreten ist. Ich hatte also ziemlich viele internationale Einflüsse.
Sie sind US-Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, leben heute in Deutschland. Waren die verschiedenen kulturellen Einflüsse für Sie und Ihre künstlerische Entwicklung von Vorteil?
Huangci: Die chinesische Herkunft spielt eher eine kleinere Rolle, weil ich nur sehr selten in China gewesen bin. Mit meinen Eltern habe ich fast nur Englisch gesprochen. Sie waren immer sehr offen und westlich orientiert. Natürlich mit chinesischer Disziplin. Klar bin ich ganz anders aufgewachsen als Kinder in Europa. Dazu noch in einem kleinen Dorf, wo es nur ganz wenige Asiaten gab. Ich würde zwar nicht sagen, dass es viel Rassismus gab, aber am Anfang war es nicht besonders leicht. Als ich dann in Curtis studiert habe, war es weniger amerikanisch, da über neunzig Prozent der Studenten Asiaten waren. Die Konkurrenz war unglaublich. Wir saßen jeden Donnerstag zusammen und haben einander beim Spielen zugehört. Die Kommentare waren teilweise grausam. Es ging nur um technische Perfektion. Ein Beethoven-Klavierkonzert war da weniger wert als die fehlerfreie Interpretation von Prokofjews zweitem Klavierkonzert. In Deutschland traf ich auf eine ganz andere Atmosphäre. Meinen Mitstudenten ging es nicht um Konkurrenz, sondern um gegenseitige Unterstützung.
Wenn man Ihre umfangreiche Diskografie anschaut, ist die Vielfalt Ihres Repertoires beachtlich.
Huangci: Ich langweile mich einfach ganz schnell! Jedes Jahr spiele ich mehr als zwei Recital-Programme und drei Klavierkonzerte. So behält man seine Frische. Zyklen wie Chopins Préludes spiele ich für eine Saison und lege sie dann erstmal zwei, drei Jahre beiseite. Wenn ich zurückkehre, habe ich meist ganz neue Ideen. Manchmal passiert das auch mit alten Aufnahmen von mir, bei denen ich denke, dass ich das heute ganz anders spielen würde. Ich glaube zudem ganz fest daran, dass es keine feste und wahrhafte Interpretation gibt. Eine Aufnahme ist letztlich nur eine Momentaufnahme. Nur für diesen einen Augenblick im Leben. Mit meinem neuen Bach-Album war das ähnlich. Bach war für mich immer ein göttlicher Komponist, und es ist für jeden Pianisten ein Meilenstein, seine Musik aufzunehmen. Bach hat eine unglaublich reinigende Wirkung.
Sie arbeiten mit Orchestern, beschäftigen sich mit Solo-Literatur und sind mit Ihrem Trio Machiavelli auch kammermusikalisch aktiv. Können Sie den Anforderungsschalter so einfach umlegen?
Huangci: Ja, absolut, kein Problem! Natürlich ist es spannend, wenn man Orchester- und Kammermusik parallel machen kann. Bei einem Orchester ist es interessant, auf die einzelnen instrumentengruppen zu achten, was einem einen tollen Überblick und eine gute Orientierung in der Musik ermöglicht. Letztendlich ist Orchestermusik für mich wie große Kammermusik mit achtzig Leuten. Klar hat man manchmal eine andere Meinung als der Dirigent. Da hilft dann nur Diskussion (lacht). Für Recitals hat man natürlich seine Übungen alleine im stillen Kämmerlein gemacht und muss dann auf der Bühne absolut spontan und frei sein. Keinesfalls darf es immer gleich klingen. Dann nämlich nutzt es ab.
Auf Ihrer Website ist von Ihrem unbändigen Forschergeist die Rede.
Huangci: Ich setze mich zum Beispiel viel mit dem Thema Klang auseinander. Da ich eine ziemlich kleine Frau bin, ist es mitunter schwierig, bestimmte Klänge zu erzeugen. Es braucht eine besondere Form der Atmung und von Körperspannung. Von Professor Vardi habe ich gelernt, dass man mit der Spitze des Fingers das leiseste Pianissimo spielen kann, was trotzdem noch in der letzten Reihe eines Konzertsaals zu hören ist. Man muss mit vielen unterschiedlichen Werken und Komponisten experimentieren. In Bachs Musik ist das vielleicht ein bisschen schwerer zu hören, aber es gibt so viele Momente, wo man absolut transparent und klar sein muss im Klang. Man benötigt besondere Fingersätze. Diese zu finden kostet mitunter viel Zeit. Nicht jeder Fingersatz klingt gut.
Ist künstlerische Wandlungsfähigkeit heute der Schlüssel zum Erfolg?
Huangci: Als ich Studentin war, herrschten noch ganz andere Bedingungen als heute. Damals waren Karrieren wie von Lang Lang oder Yuja Wang ausgesprochen selten. Beide haben es ohne Wettbewerbe geschafft, was ja oftmals der einzige Weg ist. Heute kann man so einen Spitzenwettbewerb zwar gewinnen, und trotzdem ist es mit der Karriere nach ein, zwei Jahren wieder vorbei. Dann kommt nämlich der nächste Gewinner. Deswegen glaube ich, dass ein Künstler nicht immer alles spielen sollte, obwohl ich selbst nicht so bin. Ich kenne viele geschätzte Kollegen, die sich nur auf ein bestimmtes Repertoire beschränken.
Gibt es neben der reinen künstlerischen Tätigkeit gewisse Verantwortungen die man als Künstler trägt?
Huangci: Ich lege besonderes Gewicht auf das Unterrichten und die Unterstützung der nächsten Generation. Es bringt einem selbst sehr viel. Man muss die Persönlichkeit der Studenten kennenlernen und mit der Musik ausloten. Ich möchte den Studenten helfen Interpretationen zu finden, die zu ihrer Persönlichkeit passen. Keinesfalls möchte ich ihnen meine Art und Weise zu Spielen aufzwingen. So habe ich es von meinen Lehrern gelernt und darin sehe ich nun meine Verantwortung anderen Künstlern gegenüber.
Kann es wichtig sein, sich politisch zu engagieren wie es einige Ihrer Kollegen tun?
Huangci: Ich bin gut mit Igor Levit befreundet, wenn Sie das meinen (lacht). Natürlich kann man all die negativen Nachrichten aus der Welt nicht ignorieren, aber ich glaube, dass es keinen Einfluss auf meine Musik oder meine Arbeit als Künstlerin hat. Ich möchte meine politischen Sichtweisen keinesfalls mit meiner Musik in Verbindung bringen, weil es einfach zu sehr ablenkt.
Aber wo sehen Sie Grenzen, wo das Künstlertum definitiv aufhört?
Huangci: Da muss jeder seine eigene Grenze ziehen wie ich bei dem Thema Politik. Künstler müssen und sollen alle Freiheiten haben, Tabus dürfen heute keine Rolle mehr spielen. Natürlich kommt es da immer auf die Persönlichkeit eines einzelnen an.
Wie schätzen Sie die Entwicklung des Publikums ein? Es ist immer davon die Rede, dass so wenig junge Menschen ins Konzert kommen. Schätzen Sie die Situation genauso dramatisch ein, wie sie teilweise dargestellt wird?
Huangci: Man sollte den Optimismus nicht verlieren, schließlich existiert diese Musik seit vielen hundert Jahren. In Deutschland stelle ich klar fest, dass die Kinder wesentlich besser über Instrumente und Musik informiert sind als zum Beispiel in den USA. Allerdings wundert es doch niemanden, dass die Kids mit achtzehn Jahren nicht ins Konzert kommen. Man hat in dem Alter eine so wilde Energie. Da möchte man lieber raus und tanzen. Später kommen sie automatisch ins Konzert. Es ist alles nicht so dramatisch. Für mich als Künstlerin ist es jedoch nach wie vor ein absolutes Anliegen, den Austausch mit der nächsten Generation zu fördern und so viel Dialog und Begeisterung wie möglich zu schaffen.