Startseite » Interviews » „Inspiration – was ist denn das?“

Interview Christian Tetzlaff

„Inspiration – was ist denn das?“

Warum für den Geiger Christian Tetzlaff nur die Begeisterung zählt

vonArnt Cobbers,

Unermüdlich reist Christian Tetzlaff von Konzert zu Konzert, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten langsam, aber stetig in die Weltspitze gespielt hat. Der Geiger aus Hamburg, der in Lübeck und Cincinnati studiert hat, wohnt heute bei Frankfurt am Main.

Herr Tetzlaff, Sie spielen alle paar Tage irgendwo anders auf der Welt. Sind Sie reisesüchtig? Publikumssüchtig? Musiksüchtig?

Das letzte in jedem Fall! Ich reise auch gern. Und ich spiele im Moment wahnsinnig gern Konzerte. Als die Kinder klein waren, habe ich mich zurückgehalten, aber jetzt ist der Älteste aus dem Haus, und die anderen beiden sind auch schon groß. Jetzt mache ich ein bisschen mehr. Ich fühle mich einfach wohl auf der Geige, ich fühle mich damit wohl, was ich sagen darf, ich habe die Dirigenten, mit denen ich gerne spiele, und ich kenne inzwischen die Orchester, da muss man sich nicht mehr beweisen. Es ist einfach nett. Und Kammermusik spiele ich nur noch mit Leuten, mit denen ich auch hinterher feiern möchte, da hat man eine doppelte Motivation. Insofern fällt es mir gerade schwer, mich zu bremsen. Außerdem ist das Geigespielen körperlich so diffizil. Als Pianist oder Dirigent weiß man, das geht auch mit 130 noch ganz gut. Bei der Geige stellt sich das Gefühl, Lalos Symphonie espagnole lasse ich jetzt lieber, sehr viel früher ein. Was ich spielen möchte von den schweren Sachen, möchte ich jetzt spielen.

Wann kommen Sie dazu, diese Stücke zu üben?

Ich übe vielleicht eine Stunde am Tag, und das seit 15 Jahren. Das heißt, wenn ich zu Hause bin, bin ich ganz für die Familie da und koche usw.

Ist es wirklich so: Wenn man einmal eine gute Technik hat, muss man nicht mehr viel üben?

Das ist für jeden anders. Und es ist immer die Frage, wie man aufgewachsen ist. Ich bin entsetzt, wenn ich sehe, wie viele Zwölfjährige vier, fünf Stunden üben. Ich halte das für kontraproduktiv. Und wenn man später vielleicht sogar sechs, sieben Stunden am Tag übt, und das über lange Zeit, dann kommt man davon physisch und emotional wahrscheinlich nicht mehr weg. Weil man weiß: Wenn ich es so mache, läuft es gut. Mich würde das extrem nerven, denn das Leben wird dadurch sehr viel schwieriger.

Brauchen Sie auch deshalb keine längeren Pausen, weil Sie fast in jedem Konzert etwas anderes spielen?

Ich spiele alles bunt durcheinander, und das finde ich extrem reizvoll. Jedes Jahr spiele ich so etwa 20 verschiedene Violinkonzerte, und es wird immer einfacher, weil ich die Stücke immer besser kenne.

Müssen Sie nicht wenigstens ein paar Tage vor dem Konzert mit einem Stück „leben“?

Im Sonatenprogramm hat man ja oft vier verschiedene Sonaten aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Das ist für mich zu nostalgisch gedacht, dass ich eine Woche Brahms werden muss, um sein Violinkonzert zu spielen. Es kommt die Einleitung, und dann ist man irgendwie drin im Stück. Und hinterher bin ich auch mit Vergnügen ganz schnell wieder draußen. Das Konzert ist so ein exaltierter Moment, und danach geht man ein Bier trinken.

Wenn jetzt ein Anruf käme, ob Sie heute Abend Dvořák oder Birtwistle spielen könnten – könnten Sie?

Birtwistle würde gehen, weil ich das aus den Noten spiele. Mendelssohn, Tschaikowsky, Brahms, Beethoven, Berg würden auch gehen. Aber Dvořák wäre mir unangenehm, weil ich das nicht so oft spiele. Das würde ich für morgen zusagen, für heute nicht.

Sie haben vor einigen Jahren das zweite Konzert von Joseph Joachim auf CD aufgenommen. Hat sich der Aufwand für diese Rarität gelohnt? Sie spielen es ja inzwischen gar nicht mehr.

Vielleicht wäre es gar nicht so schwer, das wieder ins Programm zu bekommen, ich habe es damals bei vier oder fünf Orchestern gespielt. Hat es sich gelohnt? Sehr! Das war der kräfteraubendste Geigenpart, den ich je gespielt habe – 40 Minuten lang und durchgängig hochvirtuos. Da habe ich, was ich sonst nie mache, über ein Jahr hinweg vielleicht alle drei Tage eine Seite erarbeitet, wie ein Student. Ich lebe sonst nur von der Hand in den Mund. Auch meine Uraufführungen fange ich erst an zu üben, wenn ich weiß, das Konzert ist in ein paar Wochen.

Erarbeiten Sie sich die neuen Stücke unterwegs?

Ja. Ich habe die letzten Jahre jedes Jahr eine Uraufführung gemacht, und ich habe mir angewöhnt, dass ich sie auf Reisen einfach lese und dass ich, ohne sie zu spielen, Fingersätze und Bogenstriche eintrage. Das beschleunigt den Arbeitsprozess ungemein. Mit der Geige gehe ich erst kurz vorher ran, und wenn es hart auf hart kommt, gibt es dann auch mal einen Zwei-Stunden-Tag zu Hause.

Arbeiten Sie auch noch abends nach dem Auftritt?

Nein. Im Orchesterkonzert höre ich mir immer den zweiten Teil an, das liebe ich. Aber ich genieße diesen Moment nach dem Konzert, wenn man noch warm ist und mit einem Bier in der Garderobe sitzt und guckt, was morgen ist. Im Moment macht es mir einfach wahnsinnig Spaß, und da ist man sehr selten erschöpft oder müde.

Sie machen ja sehr viel und gern Kammermusik. Was ist der Reiz, einen Soloabend zu geben?

Bei einem Bach-Abend natürlich das Repertoire. Das sind, wenn ich den Publikumsreaktionen glauben darf, die schönsten und innigsten Abende, auch für mich sind es die emotional berührendsten Konzerte. Die gemischten Abende mit Bach, Ysaye, Paganini sind vielleicht musikalisch ein bisschen weniger reizvoll, aber diese Herausforderung ist gesund.

Bekommen Sie etwas von den Städten mit, in denen Sie gastieren?

Ich kriege eigentlich nichts mit von der Welt. (grinst) Aber mir gefällt diese Betriebsamkeit. Ich reise immer so spät an, wie es noch vernünftig geht. Dann kommen die Proben, und der Konzerttag ist nicht der Tag, wo man in Ruhe durch die Stadt oder ein Museum schlendert. Die Konzerttage selbst sind schon ein bisschen eingeschränkt: gut essen, Mittagschlaf, fernsehen.

Einige Musiker sagen, sie schöpfen durch Museumsbesuche Inspiration.

Inspiration – was ist denn das? (grinst) Das klingt so schön und so tief.

Gibt es Orchester, auf die Sie sich besonders freuen?

Ja, es gibt einfach besonders nette Orchester, mit denen man vielleicht auch schon auf Tournee war, da kennt man mehr Leute und teilt schöne Konzerterinnerungen. Aber alle Orchester sind erstmal offen. Für Dirigenten ist die Lage vollkommen anders. Die stehen vor dem einen Orchester wie die Könige und von dem nächsten bleich und kriegen kein Wort raus, weil irgendwelche emotionalen Dinge schief laufen. Das ist verrückt. Mit denselben Dirigenten erlebe ich die freiesten und schönsten Sachen und auch die reduziertesten. Als Solist greife ich weniger in den Gesamtprozess des Orchesters ein.

Überlassen die Dirigenten den Solisten die Richtung oder diskutieren Sie über die Stücke?

Ich gebe immer den Weg vor, aber ich mache, glaube ich, keine absurden Dinge, dass es einem Dirigenten schwer fallen würde, damit zu leben. Und ich habe auch keine Erfahrung mehr mit Dirigenten, die Dinge tun, mit denen ich nicht zurechtkomme. Es gibt Stücke, die sind so heikel, zum Beispiel das Beethoven-Konzert, dass ich die mit bestimmten Dirigenten nicht mehr spiele. Aber ein herrliches Beispiel ist: Ich habe das Brahms-Konzert vor zwei Jahren mit Levine, Herreweghe, Harding und Jurowski gespielt – das sind die unterschiedlichsten Persönlichkeiten, und es ging immer wunderbar. Solange es Leute sind, die sich gern am Text orientieren, findet man eine Lösung, auch wenn es dann klanglich in ganz verschiedene Bereiche geht. Ein gewichtiges Kriterium für mich ist, dass ein Dirigent begeistert neben mir auf der Bühne steht. Das hat mit der Qualität des Dirigierens nichts zu tun, nicht mal etwas mit der musikalischen Meinung. Wenn man sich kurz im Konzert anguckt und sieht diese tiefe Begeisterung, dann verdoppelt sich das Gefühl auf der Bühne für einen. Wenn einer gut dirigiert, aber mit dem Gefühl, dass er nur begleitet – das ist enttäuschend.

Sie spielen eine moderne Geige. Ist der Hype um die Stradivaris und Guarneris Unsinn?

Es wird den alten Instrumenten zugeschrieben, dass sie gut klingen, weil sie alt sind oder weil es ein Geheimnis gibt – daran glaube ich nicht. Ich glaube, dass Stradivari und Guarneri extrem gute Geigenbauer waren, ich halte das für persönliche Höchstleistungen. Aber es gibt Stradivaris, die nicht klingen, und es gibt moderne Instrumente, die sehr gut klingen. Mir ist vollkommen egal, ob neu oder alt.

Sie haben seit 1994 Ihr eigenes Streichquartett. Kann man Streichquartett „nebenbei“ spielen?

Diese Perfektion im Zusammenspiel, dieses Aufeinander-eingeschworen-sein, dieser Wunsch nach totaler Geschlossenheit – das finde ich in Einzelfällen fantastisch, aber manchmal auch problematisch. Ich möchte unbedingt diese Literatur spielen, und ich finde, wir spielen gut. Ich sehe den Aspekt der Perfektionierung als etwas nebensächlicher an als andere. Im Quartett kommen wir vier aus verschiedenen Ecken. Man versucht sich anzugleichen, aber dass die Dinge klanglich etwas unterschiedlicher sind, ist auch eine Qualität.

Sie haben auch schon Orchester vom ersten Pult aus geleitet.

Ja. Das hat zwar Nachteile in der Organisation, aber es hat auch Vorteile. Man muss über Artikulation und Striche nicht mehr so viel reden, wenn man deutlich führt.

Ist das ein Zwischenstadium zum Dirigieren?

Nein. Bei den Stücken, die ich sehr gut kenne, beim Mendelssohn-Konzert zum Beispiel oder bei Mozart, reizt es mich manchmal, das Ganze in die Hand zu nehmen, weil ich so viel Erfahrung mit den Stücken habe. Aber solange ich geigen kann, reizt mich das Dirigieren nicht so – abgesehen davon, dass man das ja auch können muss.

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!