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Interview Bruce Liu

„Ich habe mich in gewisser Weise selbst überrascht“

Der chinesisch-kanadische Pianist Bruce Liu gleitet offenkundig mühelos über Wellen, die ihn zum Erfolg führen.

vonHelge Birkelbach,

Das kennt man nur von Hollywoodstars: Ursprünglich waren zwanzig Minuten für das Interview angesetzt, 24 Minuten wurden schließlich daraus. Bruce Liu musste danach pünktlich zur Probe ins Konzerthaus Berlin, wo er am Abend mit seinem Auftritt das 125-jährige Jubiläum der Deutschen Grammophon feierte. Zum Glück war der sympathische Pianist völlig relaxt und fokussiert.

2021 haben Sie den Warschauer Chopin-Klavierwettbewerb gewonnen. Haben Sie danach Ihre Zukunftspläne geändert?

Bruce Liu: Ja, völlig. Dieser Gewinn hat alles verändert. Ich war ja ein ganz normaler Student, eine Karriere als Pianist stand noch in den Sternen. Hätte ich den Wettbewerb nicht gewonnen, wäre es durchaus möglich gewesen, dass ich die Richtung geändert hätte. Dass ich zum Beispiel unterrichte oder etwas völlig anderes mache. Ich weiß nicht, es hätte in gewisser Weise auch ein ganz normaler Job sein können. Wenn Sie es genau betrachten, ist das Musikerdasein eine sehr grausame Industrie. Es liegt daran, dass es so enorm viele junge Menschen gibt, die erfolgreich sein wollen, aber nur sehr wenige es schaffen können. Ich bin sehr glücklich, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, das zu tun, was ich liebe.

Ihr Lehrer Đặng Thái Sơn hat 1980 ebenfalls diesen Wettbewerb gewonnen. Hat er Ihnen geheime Tipps für die Vorbereitung verraten?

Liu: Zunächst einmal: Das war vor vierzig Jahren, als er den Preis gewann. Einige Dinge haben sich sicher seither geändert. Was er mir geraten hat, war eher grundlegender Natur. Er brachte mir bei, wie man sich seiner eigenen Persönlichkeit gewahr wird und wie man mit ihr überzeugt. Jeder Schüler hat seine eigenen individuellen Ansätze, und die hat Sơn gefördert. Er war ein sehr guter Lehrer. In einer Welt der Gleichförmigkeit, wo junge Menschen einem imaginären Schönheitsideal hinterherrennen oder alle Shoppingmalls und Einkaufsstraßen gleich aussehen, egal wo man sich gerade aufhält, ist es wichtig, seine eigene Persönlichkeit zu finden. Daran kann man arbeiten. Man lernt sich besser kennen und weiß, wo man ungefähr steht, im Leben wie in der Musik.

Was konkret hat sich nach dem Wettbewerb für Sie geändert?

Liu: Das Tempo. Wissen Sie, ich hatte damals noch keinen Manager, ich war Student und musste mich plötzlich mit Dingen wie Reiseplanung, Hotelbuchungen, Gepäckverspätungen und Jetlag beschäftigen (lacht). Diesem neuen Tempo und dem neuen Leben zu folgen, war anfangs recht schwierig. Ich musste lernen, genug Zeit zum Üben einzuplanen. Ich musste lernen, auf meine Gesundheit zu achten, um in Form zu bleiben und mich gewissenhaft mit neuen Stücken beschäftigen zu können. All das war also etwas ganz Spezielles.

Während der Corona-Pandemie haben Sie sich intensiv mit der Musik Chopins auseinandergesetzt. Was war die größte Überraschung?

Liu: Die größte Überraschung während der Pandemie war zunächst, dass ich mit meinen Vorbereitungen für den Chopin-Wettbewerb vor völlig neue Tatsachen gestellt wurde. Er war ja ursprünglich für 2020 geplant, fiel aber aus und wurde dann um ein Jahr verschoben. Ich hatte also viel mehr Zeit, mich auf den Wettbewerb vorzubereiten. Wegen Corona standen auch keine Konzerte auf dem Terminplan. Das war irgendwie auch ein großes Geschenk für viele Musiker: endlich viel Zeit zur Verfügung zu haben. Ich war noch nie derart auf einen einzelnen Komponisten konzentriert. Beim Wettbewerb dürfen die Kandidaten selbst ihre Stücke aus einem vorgegebenen Chopin-Repertoire auswählen. Bei den Runden 1 bis 3 sind das vor allem Etüden, Balladen und Mazurken. Im Finale stehen die beiden Klavierkonzerte op. 11 und op. 21 zur Auswahl. Ich habe meine ursprüngliche Liste etwa um die Hälfte des Repertoires geändert. Denn ich hatte die Chance, Chopin völlig neu kennenzulernen.

Änderte seinen Namen von Xiǎoyǔ zu Bruce: Bruce Liu
Änderte seinen Namen von Xiǎoyǔ zu Bruce: Bruce Liu

Was haben Sie entdeckt?

Liu: Interessanterweise: mich selbst! Früher habe ich auf eine sehr maßvolle Weise gespielt, strikt der Partitur folgend. Aber nun begann ich, in den Noten mehr und mehr die Bedeutung zu finden, die Chopin wirklich ausdrücken wollte. Diese Philosophie wurde für mich sehr wichtig, nämlich der Partitur weiterhin zu folgen, aber zu wissen, was die Absicht dahinter war. Und damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass das Ergebnis am Ende etwas völlig anderes wird. Ich habe gelernt, mit Improvisation und Spontaneität umzugehen, das war extrem gut. Ich habe mich also in gewisser Weise selbst überrascht.

Ein Zitat von Chopin lautet: „Einfachheit ist das höchste Ziel. Nachdem man eine Unmenge Noten und noch mehr Noten gespielt hat, ist es die Einfachheit, die als krönender Lohn der Kunst hervortritt.“ Würden Sie zustimmen?

Liu: Absolut. Besser kann man es nicht ausdrücken. Ich denke, das ist wahrscheinlich genau das Ziel, das wir unser ganzes Leben lang zu erreichen versuchen. Aber währenddessen kämpfen wir mit so vielen kleinen Dingen im Leben, die es immer so kompliziert machen. Am Anfang ist alles noch ganz einfach. Für Kinder ist alles neu, sie dürfen spielen und entdecken. Dann kommt die Schule, die Gesellschaft, die Arbeit. Wir müssen uns mit Problemen auseinandersetzen und es wird immer komplizierter. Unser ganzes Leben besteht darin, mit Problemen umzugehen und sie zu lösen. Und irgendwann finden wir vielleicht wieder zur Einfachheit zurück. Dann schließt sich der Kreis.

Sie sind in Paris geboren. Welche akustischen und musikalischen Erinnerungen verbinden Sie mit der Stadt Ihrer Kindheit?

Liu: Ehrlich gesagt: wenige. Natürlich haben wir klassische Musik in der Familie gehört, es gab einige CDs, was aber nicht wirklich mit der Stadt zu tun hat. Ich kann mich aber daran erinnern, dass ich sehr spät angefangen habe zu sprechen. Da war ich etwa zweieinhalb Jahre alt. Das lag daran, dass in unserer Familie viele Sprachen gesprochen wurden: Chinesisch, Französisch, später Englisch. Da musste ich mich erst einmal zurechtfinden.

Sie waren sechs Jahre alt, als Sie mit Ihrem Vater nach Montreal umzogen und mit dem Klavierspiel begannen.

Liu: Nun ja, es war kein richtiges Klavier, um ehrlich zu sein, sondern ein elektrisches Klavierspielzeug. Es hatte nur 55 Tasten. Das war aber völlig ausreichend. Ich fand es einfach sehr lustig, weil man eine Melodie wiederholen konnte, die man vorher gehört hatte. Und man konnte die Sounds verändern. Dann kaufte mein Vater ein größeres E-Piano, später habe ich zum richtigen Klavier gewechselt. Erst mit etwa elf Jahren bot sich mir endlich die Möglichkeit, am Flügel zu spielen. Es war ein sehr allmählicher Prozess, weil mein Vater mich zu nichts zwang. Es gab keinen Leistungsdruck, ich hatte einfach Spaß am Spiel.

Wann und warum haben Sie Ihren Vornamen von Xiǎoyǔ in Bruce geändert?

Liu: Das ist eine lustige Geschichte. Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich mit einem Orchester probte und die Musiker mir sagten, dass ich wie ein berühmter Schauspieler und Kung-Fu-Fighter aussehe, nämlich Bruce Lee. Und weil mein Vorname für viele schwer zu verstehen war und sie ihn nicht aussprechen konnten, habe ich ihn später von Xiǎoyǔ in Bruce geändert. Warum nicht? Meines Wissens gibt es keinen Bruce in der klassischen Musik. Seltsamer Nebeneffekt: Jetzt könnte man mich mit Bruce Lee verwechseln, wenn man nicht weiß, dass ich mit meinen Händen keineswegs herumrudere und zuschlage.

Sport betreiben Sie dennoch gerne zum Ausgleich.

Liu: Ja, ich schwimme gerne. Das ist gut für die Schultern, die ja beim Klavierspielen sehr beansprucht werden und verspannen können. Und ich liebe Kartfahren. Ich kam sogar einmal in den Genuss, ein Training beim polnischen Rennsport-Champion Robert Kubica zu absolvieren. Und ich gehe gerne essen. Es ist einfach die schönste Begleiterscheinung des Reisens, an so verschiedenen Orten in der Lage zu sein, die Esskultur des jeweiligen Landes kennenzulernen. Ich probiere gerne lokale Spezialitäten, auch wenn sie zuweilen seltsam schmecken oder auch mal ganz schrecklich.

Was ist Ihr deutsches Lieblingsessen?

Liu: Wir wissen, dass die Deutschen für ihre Wurstkultur bekannt sind. Es ist aber schon eine ganze Weile her, dass ich Würstchen gegessen habe. Wenn ich an deutsches Essen denke, sehe ich auch Schweinefleisch vor mir, aber immer in großen Stücken. Hier liebt man große Braten und Grillstücke. In China ist das anders. Da weiß man nie, welcher Teil des Schweinefleischs Verwendung fand, weil es sehr fein geschnitten und mit verschiedenen Gemüsen und Saucen zubereitet wird.

Nochmals zurück zu Ihrem Namensvetter. Ein berühmter Satz von Bruce Lee hat es Ihnen besonders angetan: „Wasser kann fließen, kriechen, tropfen, stürzen und schmettern. Sei Wasser, mein Freund!“ Was bedeutet das für die pianistische Arbeit?

Liu: Nun, es heißt genau, dass wir uns an verschiedene Umstände anpassen müssen. Es ist immer wieder ein neuer Ansatz, ein Stück zu spielen, weil sich Zeit, Ort und Gedanken ändern. Wir spielen in verschiedenen Konzerthäusern, auf verschiedenen Instrumenten, mit unterschiedlichem Publikum, mit unterschiedlichen Emotionen. Die Form des Glases ändert sich und das Wasser passt sich ständig an. Es immer wie das erste Mal, wenn du ein Stück spielst. Das ist wohl das, was Bruce Lee meinte.

Bruce Liu hat Komponist Charles-Valentin Alkan auf Spotify entdeckt
Bruce Liu hat Komponist Charles-Valentin Alkan auf Spotify entdeckt

Ihr erstes Studioalbum heißt „Waves“. Den Titel kann man auf die Wellen des Meeres beziehen, aber auch auf die akustischen Wellen, die die Musik zum Ohr tragen. Sind Wellen magisch?

Liu: Ja, es geht um Muster, die sich aber nie auf die gleiche Art wiederholen. Es fließt und es ist spontan und es hat eine riesige Energie, aber man hat es nie so erwartet. Es überrascht die Menschen.

Die Arbeit im Studio haben Sie als „Puzzlearbeit“ beschrieben. Puzzles haben zwei grundlegende Herausforderungen: Erstens muss alles passen und zweitens darf kein einziges Teil fehlen. Wie schwierig ist das?

Liu: Eine Studioaufnahme hat für mich viel mit analytischer Arbeit zu tun. Sie steht damit deutlich im Gegensatz zum Konzert, das auch mal zur Emotionsexplosion führen kann. Im Studio dagegen befinden wir uns in einem Labor. Wir sind uns objektiv darüber im Klaren, was wir erreichen wollen. Ich nenne es deshalb ein Puzzle, weil wir außerhalb des Klaviers so viele, viele Dinge zu beachten haben. Das fängt mit der Platzierung der Mikrofone an und reicht bis zur endgültigen Reihenfolge der Werke auf dem Album. Da kann sich zwischenzeitlich viel ändern. Ich habe zum Beispiel entschieden, die Stücke auf „Waves“ nicht chronologisch nach ihrer Entstehungszeit aufeinander folgen zu lassen, sondern mit Rameau zu beginnen, dann kommen Alkan und Ravel, um mit Rameau zu schließen.

Wie viel Zeit haben Sie im Studio verbracht?

Liu: Insgesamt waren es vier oder fünf Tage, pro Tag etwa zehn Stunden. Die Hälfte der Zeit haben wir sowieso damit verbracht, den passenden Flügel auszuwählen – es wurde schließlich ein Steinway – und ihn zu stimmen (lacht). Nein, es ging eigentlich um das Ändern des Klangs. Mir war wichtig, den Sound der Aufnahme den drei Komponisten anzupassen, die ja stilistisch und zeitlich weit auseinander liegen. Es macht keinen Sinn, den gleichen Sound für Barockmusik, die für das Cembalo komponiert wurde, und für so etwas Wildromantisches wie Alkan einzustellen. Und natürlich haben wir uns intensiv damit beschäftigt, bei der Aufnahme einzelne ausgesuchte Takes verwenden zu können und zusammenzuschneiden. Das war also das Puzzlespiel, sozusagen ein neues Kunstwerk zu schaffen.

Der Komponist Charles-Valentin Alkan sagt vielen Musikliebhabern wahrscheinlich erst mal wenig. Wie haben Sie ihn entdeckt?

Liu: Sie werden es nicht glauben, aber ich habe ihn auf Spotify entdeckt! Das ist für unsere Generation durchaus nichts Ungewöhnliches. Ich war noch Teenager, als er auf meiner Playlist auftauchte. Ich dachte sofort: Irgendwann muss ich die Musik dieses Typen spielen, weil sie so absolut unterschätzt wird.

Was ist so besonders an ihm?

Liu: Ich habe das Gefühl, dass Alkans Musik eine Mischung aus Liszt, Chopin und Mendelssohn ist, aber eben doch anders, sehr eigen. Aber niemand spricht über ihn. Ich musste ein klares Zeichen setzen und zeigen, dass es etwas gibt, das in der Geschichte schlicht fehlt. Es ist übrigens das erste Mal, dass die Deutsche Grammophon, mein Label, nun eine Aufnahme mit diesen Werken herausgebracht hat.

Was ist das verbindende Element der drei Komponisten auf dem Album?

Liu: Zum einen ist es sehr fließende Musik. Aber es braucht auch Kontraste, das mag ich sehr. Es gibt also etwas Glattes, Schimmerndes, Oberflächen und Licht, aber es gibt auch einen „crispy style“. Das ist genau der Punkt, an dem die Zuhörer ihre eigene Wiedergabeliste erstellen können. Im Konzert geht das ja nicht, was wiederum seine Berechtigung hat. Ich würde zum Beispiel nie in einem Konzert die gleiche Reihenfolge wie auf dem Album spielen. Im Konzert wird nicht gepuzzelt.

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