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Interview Boris Berezovsky

„Wir brauchen nicht noch mehr Werke“

Warum Boris Berezovsky Komponieren für überflüssig hält und gerne mal wandern geht, anstatt Klavier zu spielen

vonArnt Cobbers,

Ich fürchte, nach diesem Interview kommt niemand mehr ins Konzert“, sagt Boris Berezovsky grinsend mitten im Gespräch. Darum sei allen, die ihn noch nie erlebt haben, versichert: Der 44-jährige, in Moskau geborene Russe, der 1990 den Tschaikowsky-Wettbewerb gewann, ist ein phänomenaler Pianist. Virtuos und hochsensibel. Aber auch die Lässigkeit in Person. Als ich zwei Tage vor seinem Klavierabend in Berlin ein Interview anfrage, kommt die prompte Rückmeldung: Man könne Herrn Berezovsky heute nicht erreichen und wisse auch noch nicht, wann und wie er anreise, aber das ginge bestimmt, er sei sehr unkompliziert. Und wirklich: Drei Stunden vor Konzertbeginn sitzen wir in der ersten Zuschauerreihe im Saal. Mal antwortet er ernst, mal schickt er seinen Aussagen ein schelmisches Grinsen hinterher oder lacht fröhlich.

 

Herr Berezovsky, sind Sie tatsächlich aus Belgien mit dem Auto angereist?

Nein, aber es stimmt, ich mag Autofahren, vor allem seit ich Hörbücher entdeckt habe. Mit Musik finde ich es viel schwerer, wach zu bleiben.

Sie schlafen ein, wenn Sie Musik hören?


Ich höre Musik lieber im Konzert, die beste Musik ist für Konzerte geschrieben worden, in die die Leute gehen, um zuzuhören. Heute ist Musik überall, im Flughafen, in Toiletten, Aufzügen, das dämpft die Sinne. Selbst zuhause kann das Telefon schellen oder alles Mögliche passieren.


Trotzdem nehmen Sie viele CDs auf.


Aber fast nur noch Live-Aufnahmen.

Sie spielen viel romantisches Repertoire, besonders viel russisches, und ganz besonders viel Rachmaninow.


Ich liebe seine Musik sehr. Und natürlich steht mir das russische Repertoire nah. Aber ich spiele auch anderes. Mein Repertoire ist ziemlich breit. Ich habe beispielsweise die Goldberg-Variationen und den Ludus Tonalis in einem Konzert einander gegenüber gestellt. Ich wollte damit zeigen, dass es eine starke Verbindung gibt zwischen Bach und Hindemith, sie hatten beide eine unglaubliche Technik, polyphon zu komponieren, handwerklich vielleicht sogar auf demselben Niveau. Bei Bach dominiert der Sinn für Schönheit, bei Hindemith der Sinn für Humor. Für Bach war die Schöpfung von solcher Schönheit, dass da nicht viel Platz für Humor ist, so wie ich seine Musik verstehe. Hindemith hat dagegen einen unglaublich trockenen, ironischen Humor, den ich sehr mag. Das ist für mich der Gegenpol zu Bach. Hindemith ist einer meiner absoluten Lieblingskomponisten.

Warum spielen Sie so wenig zeitgenössische Musik?


Ich kann sie nicht ernst nehmen. Ich habe einmal in München ein Stück gespielt, das mir gewidmet war, und ich hatte keine Zeit, es vorzubereiten. Ich habe einfach alle Tas-ten gespielt, die mir unter die Finger kamen. Was immer ich greifen konnte, für zehn Minuten. Und die Kritiker schrieben: Das war phantastisch! Da habe ich gemerkt: So sehr ich zeitgenössische Kunst mag und die Idee, dass alles Kunst ist und jeder ein Künstler sein kann, so sehr sehe ich darin auch eine Gefahr, zumindest für mich als Musiker. Natürlich macht die zeitgenössische Kunst „Spaß“, sie hat viel Energie und eine große Philosophie dahinter. Aber ich fühle mich durch sie bedroht in meiner Existenz als Pianist klassischer Musik. Es gibt gewisse Regeln, die man nicht zerstören sollte.

Ist die klassische Musik an ihr Ende gekommen?


Ich finde, wir leben in einer wunderbaren Zeit. Ein Menschenleben dauert heute siebzig, achtzig, vielleicht neunzig Jahre. Die Musik, die bislang geschrieben worden ist, ist mehr als genug, um diese Zeitspanne zu füllen. Es gibt so viele interessante Werke zu entdecken, und selbst wenn Sie Ihr ganzes Leben mit dem Studium der Musik verbringen – Sie kommen nie ans Ende. Irgendwann stößt das menschliche Gehirn an die Grenze, wo es nichts mehr aufnehmen und behalten kann. Wir haben diese Grenze erreicht. Und das ist schön, wir brauchen nichts mehr.

 

Die Komponisten sollten aufhören zu komponieren?


Ja. (grinst) Man kann so viele schöne Dinge tun außer komponieren.

Sie gelten ja als Super-Virtuose. Ist es musikalisch wirklich sinnvoll, zum Beispiel Godowskys Chopin-Arrangements zu spielen, oder ist das nicht doch eher Zirkus? 


Es ist beides. Ich denke, ein Klavierabend hat immer etwas von Zirkus. Es ist eine Show. Zum Wesen des Konzerts gehört die Show, deshalb spielen wir so oft im Theater. 

Nimmt man die Klassik zu ernst?


Musik ist eine wunderbare Sache. Wie alles Wunderbare muss man sie ernst nehmen. Aber wenn man sich etwas Schönes anguckt, muss man nicht verstehen, wie ernsthaft es ist. Man nimmt es als etwas Gegebenes.

Spielen Sie jeden Tag Klavier?


Nein. (Pause) Ich fürchte, nach diesem Interview kommt niemand mehr ins Konzert. (lacht) Ich lebe in Belgien – die Ardennen, das ist eine wunderschöne Gegend. Ich liebe es, die Berge und Dörfer zu entdecken. Im Sommer kann man paddeln, das ist wunderschön.

Gibt es technische Grenzen für Sie?


Oh ja, Ligeti ist die Grenze. Das habe ich angefangen und wieder aufgegeben. Für eine Etüde würde ich zwei Monate brauchen. Da gehe ich lieber wandern. Ich schätze Ligetis Musik sehr, aber sie ist rhythmisch und technisch so komplex, dass ich überzeugt bin, der beste Interpret wäre ein Computer. 

 

Aber Sie lernen noch neue Stücke?


Natürlich, das Repertoire muss sich verändern. Es gibt noch vieles von Schumann, Mozart, Scarlatti, Chopin, das ich nie gespielt habe. Schöne Stücke, und nicht schwer zu lernen.

Lernen Sie schnell?


Das Lernen geht schnell. Aber um wirklich ein Gefühl für ein Stück zu bekommen, muss man es einige Male im Konzert gespielt haben. Das ist etwas anderes, als wenn man es zu Hause spielt. Leider. Die ersten Konzerte mit neuen Werken sind immer schlecht. 

Wie gehen Sie vor?


Ich nehme die Noten und beginne ganz langsam zu spielen. Ich muss nicht wissen, wann und unter welchen Umständen ein Stück geschrieben wurde. Das hilft nicht. Musik ist aufgeschrieben, wie Literatur, und wenn man ihre Sprache versteht, kann man sie lesen.

 

Sie machen keine Analysen?


Ich analysiere nichts. Jeder macht es anders, und das ist gut so. Was ich an der Welt so mag, ist die Vielfalt. Es gab Komponisten, die hatten alles im Kopf, wenn sie es aufschrieben. Und es gab Leute, die am Klavier komponiert haben.

 

Wäre es Ihnen lieber, Sie könnten auf die Bühne gehen und aus dem Moment heraus entscheiden, was sie spielen?


Ich brauche drei Tage, um mich auf die Stücke vorzubereiten, die ich spielen werde. Ich könnte jetzt nicht einfach so an den Flügel gehen und etwas spielen – selbst bei Werken, die ich oft gespielt habe, hätte das nicht die gleiche Qualität. Ich brauche die Zeit, um das Werk in die Finger zu bekommen, es zu automatisieren. Entweder spiele ich dasselbe Programm mehrfach hintereinander oder ich brauche ein paar Tage Pause. 

Mit welchem Gefühl gehen Sie auf die Bühne?


Vor allem mit einem Gefühl der Freude. Ich freue mich, dass ich spielen darf. Ich bin immer etwas nervös, man weiß nie, wie das Konzert laufen wird. Aber diese Spannung mag ich, das ist ein gutes Gefühl.

Haben Sie besondere Erinnerungen an Berlin?


Ich habe hier früher viele CDs aufgenommen. In den Teldec-Studios, das war sehr schön. Und in Berlin war ich zum ersten Mal wirklich betrunken. Ich war 16, die Mauer stand noch. Es gab eine Art Austausch mit Ost-Berlin, das war das erste Mal, dass ich rauskam. Wir sind in eine Bar gegangen, und hinterher war ich sturzbetrunken. Das war schön.

Aber Sie mussten nicht spielen am nächsten Tag.


Doch, am nächsten Abend. Es war ein Desaster. Ich habe Rachmaninows erstes Klavierkonzert gespielt, und ich wusste einfach nicht mehr, in welcher Oktave es losgeht. Da gibt es am Anfang einen Lauf ganz in die Tiefe, und plötzlich hatte ich keine Tasten mehr. Da habe ich gemerkt, irgendwas stimmt nicht. Das war wunderbar. (lacht) Nicht in dem Moment. Aber im Rückblick. Es war eine interessante Erfahrung. Aber keine Sorge, sowas mache ich heute nicht mehr.

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