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Blind gehört Till Brönner

„Ist das Rondò Veneziano?“

Trompeter Till Brönner hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonJakob Buhre,

Im Büro einer Berliner Konzertagentur hat es sich Till Brönner mit einer Tasse Tee bequem gemacht. Er höre sich sehr gerne Kolleginnen und Kollegen an, über alle Genregrenzen hinweg, erzählt der erfolgreiche Jazzmusiker. „Trompeter sind auf der ganzen Welt Freunde, selbst wenn sie sich nicht kennen. Alle wissen um die Hürden und Schwierigkeiten dieses Blechblasinstruments, deshalb genießt jeder, der sich in diesem Fach durchsetzen kann, automatisch den Respekt der Kollegen.“

Fasch: Trompetenkonzert D-Dur

Markus Stockhausen, Detmolder Kammerorchester, Christoph Poppen (Ltg)
EMI 1993

Das könnte von Purcell sein, oder Bach? Diese Art von Musik verbinde ich jedenfalls mit meiner frühen Kindheit, mein Vater hat so etwas oft gehört, zum Beispiel beim Sonntagsfrühstück. Und sie ist mir vertraut aus den Anfängen meiner Trompeten-Ausbildung, als noch nicht klar war, in welche Stilrichtung ich gehen würde. Wir hören hier eine Piccolo-Trompete, ein Register, das man nicht einfach nebenbei erlernt, sondern das sehr intensives Üben erfordert. Ich habe großen Respekt vor jedem Musiker, der das so makellos bewerkstelligt. Spielt das Wynton Marsalis? – Ah, das ist Markus Stockhausen, wunderbar! Er ist für mich immer noch einer der ganz Großen, auch weil er stilistisch in sehr vielen Welten zuhause ist, noch mehr als ich es bin.

Bach/Farmer/Golson: Jesu bleibet meine Freude

Art Farmer, Baroque Orchestra
Columbia 1967

Das ist natürlich Bach, aber die Aufnahme kenne ich nicht. Es könnte die Clark/Boland-Big Band sein und ich glaube hier Art Farmer zu erkennen. Seine Phrasierung ist unverkennbar, sein Timing, wie weich bzw. wie hart er spielt, das sind Eigenheiten, die jede seiner Veröffentlichung hat. Und diese Repertoireauswahl weist natürlich in Richtung Europa. Farmer lebte eine Zeit lang in Wien, wo er auch Mitglied der ORF-Big Band war. Diese Zeit in den Sechzigern, als auch Jacques Loussier mit „Play Bach“ anfing, war sehr spannend, weil man plötzlich darüber nachdachte: Wie viel Jazz steckt in Bach? Und: Wird Jazz zur Kunstmusik und begibt sich damit auf Augenhöhe mit der Klassik?

Jost: Pieta

Simon Höfele, BBC Symphony Orchestra, Geoffrey Paterson (Ltg)
Berlin Classics 2023

Was das ist, weiß ich nicht, aber solche Musik liebe ich, so etwas könnte ich tagelang hören! Das ist emotional und klanglich eine Welt, in der ich als Musiker am liebsten zuhause wäre, noch dazu, wenn Trompete dabei ist. Ich höre hier Strawinsky-Einflüsse, Expressionismus-Anleihen … Es könnte Håkan Hardenberger sein, der sehr gerne mit diesem Dämpfer spielt und der Komponist vielleicht Bernd Alois Zimmermann. Genauso könnte es aber auch Jerry Goldsmith sein, der solche Klänge in den sechziger Jahren in seiner Filmmusik verwendet hat. So wie hier die Klangfarben auf Basis des Sinfonieorchesters ausgelotet werden und damit eine bestimmte Atmosphäre geschaffen wird, das ist für mich große Kunst. „In memoriam Chet Baker“ ist der Untertitel? Nein, Chet Baker höre ich hier nicht wirklich heraus. Aber den Interpreten finde ich super. Tolle Musik und technisch wahnsinnig gut gespielt.

Faure/Ogerman/Evans: Pavane

Bill Evans (Klavier), Symphony Orchestra, Claus Ogerman (Ltg).
Verve 1966

(nach wenigen Sekunden) Mein Lieblingspianist, von allen, danach kommt erstmal lange nichts. Das ist für mich eines der schönsten Alben, die Evans aufgenommen hat, es hatte auch einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung sowohl von Evans als auch von Claus Ogerman. Sein Arrangement und Evans Klavierspiel passen wunderbar zusammen, weil er sehr lyrisch spielt und bei ihm häufig auch eine klassische Prägung durchscheint. Es gibt Momente in Evans Improvisationen, wo er wie ein klassischer Pianist wirkt, obwohl seine harmonischen Ansätze ganz klar Jazz sind.

Rodrigo/Evans/Davis: Concierto de Aranjuez

Alison Balsom, Britten Sinfonia, Scott Stroman (Ltg)
Warner Classics 2022

Komisch, ist das die Miles Davis-Aufnahme? Ich bin mir nicht sicher. Ich wüsste jedenfalls nicht, dass Gil Evans sein Arrangement von Rodrigos Gitarren-Konzert noch mit einem anderen Trompeter aufgenommen hätte. Und wer hätte die Chuzpe, das nochmal genau so einzuspielen? Ingrid Jensen vielleicht? Der Interpret ist schwer zu erkennen, weil hier Klang und Improvisation sehr nah an der bekannten Adaption des Rodrigo-Konzerts von Gil Evans und Miles Davis sind. Deren Version ist natürlich gut dokumentiert, auch transkribiert worden, man könnte also nachspielen, was Miles improvisiert hat. –Ach, das ist Alison Balsom? Sensationell, wie sie in der Lage ist, diese Klänge im Stil von Miles Davis zu produzieren, denn das ist für sie ein ganz anderes Fach. Die gesamte Aufnahme scheint mir sehr behutsam und mit viel Ehrfurcht vor dem Original gemacht worden zu sein. Die Frage, welchen künstlerischen Wert so eine Neuaufnahme hat, kann man natürlich stellen – sie wird von Jazz-Musikern vermutlich anders beantwortet als von Klassik-Interpreten.

Mozart: Eine kleine Nachtmusik

James Last Orchestra
Polydor 1984

Ist das Rondò Veneziano? Wow, dieser elektrische Bass! Und der Schlagzeug-Sound ist extrem gut. Das hat jemand aufgenommen, der sich wirklich auskennt. Klingt nach den Achtziger. Wer ist das? – Ach, James Last, natürlich! Als Bassist wusste er sehr genau, was für Basslinien er schreibt und wer die spielen soll. Und er war jemand, der immer – auch in seinen kommerziellsten Momenten – an seinen künstlerischen Vorstellungen festgehalten hat. So eine Adaption mag für eine breite Masse gemacht sein, aber ich fand es beachtlich, wie James Last auch in diesem publikumsnahen Ansatz eine gewisse musikalische Qualität nie unterschritten hat.

Bolling: Marche

Maurice André , Claude Bolling (Klavier)
CBS 1981

Das hört sich an wie ein sehr guter Klassik-Trompeter, der offenbar eine große Liebe zum Jazz hat. Ich vermute auch hier wieder die Achtziger. Wunderbar, wie der Trompeter die Läufe spielt, so flüssig – das kann eigentlich nur Maurice André sein. Schön, dass er sich hier mal dem Jazz zugewandt hat.

Molvær: Certainty of Tides

Nils Petter Molvær, Norwegian Radio Orchestra, Ingar Bergby (Ltg)
Modern Recordings 2023

Das ist verdammt gut. Könnte etwas Nordisches sein, mit so einem Klang assoziiere ich vor allem Nils Petter Molvær. Er beherrscht als Einziger diese Miles Davis-artige Artikulation und integriert sie in seine Musik so gut, dass ich mir das sehr gerne anhöre. Er ist auch ein extrem mutiger Musiker, ein Grenzgänger der sich nicht um Konventionen schert. Ich bin ein großer Fan von ihm. Diese Platte kannte ich noch nicht, muss ich mir sofort besorgen.

Traditional: O Tannenbaum

Wynton Marsalis, Wes Anderson, Wycliffe Gordon, Todd Williams
Columbia 1989

Die Aufnahme kenne ich natürlich. Sie gehört nicht zu meinen Lieblings-Weihnachtsplatten, ich habe sie aber oft gehört, als sie rauskam. Zu der Zeit fing Marsalis an, Konzept-Alben aufzunehmen, mit teilweise etwas sperrigen Arrangements, wie diesem hier. So ein Experiment dann ausgerechnet auf dem Schlitten einer Weihnachtsplatte zu machen, war sehr mutig – für Marsalis aber auch unumgänglich. Er wollte eben kein entspanntes Lametta-Weihnachtsalbum aufnehmen, sondern seinen künstlerischen Anspruch verwirklichen.

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