Stefan Temmingh ist nicht nur ein großer Aufnahmen-Kenner, sondern auch begeisterter Sammler: Jeden Freitagmorgen, so erzählt er nach einem Konzert im Berliner Pierre Boulez Saal, überprüfe er sorgfältig, welche neuen Einspielungen gerade erschienen sind. Zwischenzeitlich führte seine Sammelleidenschaft gar zu Platzproblemen, wofür der in Südafrika geborene Blockflötist eine ungewöhnliche Lösung fand: „Irgendwann hatte ich so viele CDs, dass ich sie alle aus der Plastikhülle herausgenommen und in ein dünnes Kuvert gesteckt habe – sonst wäre meine Wohnung ein CD-Lager geworden.“
Das Stück kenne ich. Ist das meine Kollegin Laura Schmid? Es klingt jedenfalls nach einer sehr weiten Flöte, sprich: Der Windkanal ist größer als bei eng gebohrten Flöten. Weite Flöten sind lauter, eignen sich daher auch gut für große Konzertsäle. Allerdings ist sich die Blockflötenwelt uneins, ob dies auch mehr Klangfarben ermöglicht als bei engen Flöten. – Aha, wo Sie jetzt den zweiten Satz spielen: Das ist Michael Form! Er ist vielleicht der perfekteste Spieler auf unserem Instrument, seine Intonation ist tadellos, die Artikulation sehr gut, und er geht mit seinem Spiel nie in den Klamauk. Das ist eine Perfektion, vor der ich großen Respekt habe und die ich selbst nicht erreiche. Allerdings ist es dann auch wie bei einer schönen Frau oder einem schönen Mann: Am Ende möchte man an irgendeiner Stelle doch eine Macke haben, sonst besteht die Gefahr, dass es einen Hauch zu eintönig wird.
Blockflöte und Bass sind hier an manchen Stellen nicht ganz zusammen. Und ehrlich gesagt wäre ich mit meinen Studierenden sehr streng, wenn sie so intonieren würden. Unser Instrument reagiert ja nahezu panisch auf Luftdruck: Wenn man etwa bei einem Crescendo zu stark bläst, wird es sofort zu hoch. Alle Auftakte hier sind breit, das hätte mir mein Lehrer verboten. Ist die Einspielung aus den siebziger Jahren? – Es fällt auch auf, dass die Koordination etwas wackelt, also die Abstimmung von Finger, Zunge und Blasdruck. Mir gefällt aber, dass es auch hier keinen Klamauk gibt. Im Laufe einer Karriere mit der Blockflöte kann es durchaus Phasen geben, in denen man eine Art Minderwertigkeitskomplex entwickelt. Das versucht man dann zu vertuschen, indem man zum Beispiel absurde Artikulationen macht oder rasend schnell spielt – so etwas nenne ich Klamauk.
Mit so viel Vibrato würde man das heute nicht mehr spielen. Selbstverständlich gab es Vibrato im Barock, aber es war viel mehr als Ornament gedacht. Hier findet es auf jeder Note statt, das ist definitiv keine barocke Ästhetik. Und das Tempo im Allegro ist mir etwas zu gemütlich. – Nach längerem Zuhören würde ich tippen, dass es Frans Brüggen ist. Es müsste seine erste Aufnahme von diesem Stück sein, für die er auf einer modernen Coolsma-Blockföte gespielt hat. Das Interessante ist: Bei seiner zweiten Aufnahme, auf einem Instrument von Pierre Bressan aus dem 18. Jahrhundert, spielt er es ganz glatt, ohne Vibrato.
Es gibt hier beim Spiel Dinge, die mir gut gefallen, aber dann kommt plötzlich wieder so eine komische Artikulation oder ein aufgesetztes Vibrato. Und mich stört die schlechte Intonation: In der Aria konnte ich die noch verzeihen, aber in der ersten Variation … Also, privat würde ich mir das eher nicht anhören. Wobei so ein Arrangement natürlich interessant ist. Vor Kurzem habe ich eine Aufnahme des „Erlkönigs“ von Philippe Jaroussky mit Sopranstimme und Gitarre gehört – das ist genauso ungewöhnlich, aber Musik ist ein lebendiges Material, und wir sollten alles dafür tun, es lebendig zu halten. Ich selbst habe vor zehn Jahren Bachs „Französische Suiten“ mit der Blockflöte aufgenommen. Wobei ich da auch noch etwas abenteuerlustiger war. Mittlerweile suche ich die wahre Stimme der Blockflöte im Barock und in der Moderne. Ich werde sie zwar nie finden, aber trotzdem suche ich sie. Allerdings suche ich sie nicht bei den Goldberg-Variationen.
Das ist Sammartini, gespielt von Maurice Steger. Ich kannte diese Aufnahme schon vor der Veröffentlichung, Maurice hatte sie mir damals zugeschickt – die Blockflötenwelt ist klein. Mir gefällt das sehr gut, kluge Dynamik, die Intonation ist tadellos, das Spiel lebendig, die Artikulation sehr abwechslungsreich, das Continuo ist vollgriffig gespielt, alles durchweg geschmackvoll. Dazu gehört übrigens auch die sehr gute Aufnahmetechnik, Christian Sager hat auch bei mir schon mehrmals Tonregie gemacht.
Sehr rhythmisch, das Ensemble könnte Musica Antiqua Köln sein. Im Gegensatz zu Michael Form hört man hier jetzt eine sehr enge Blockflöte. Michael Schneider ist es nicht, oder? – Aus Italien? Die Italiener spielen tatsächlich oft auf engeren Flöten. Dieser Interpret spielt viele kurze Töne, das könnte Antonini sein. Für mich klingt die engere Flöte eintöniger, aber das ist Geschmackssache. Es gibt auch Experten, die behaupten, breite Flöten wie ich sie spiele habe es im Barock nicht gegeben. Ich finde es hier etwas zu hallig aufgenommen, manche Details nimmt man dadurch nicht wahr. Man hört aber, dass Antonini ein sehr gutes Gefühl für Rhythmus und die musikalische Substanz hat. Und sein Ensemble spielt hervorragend.
Das ist „Kolibri“ von Markus Zahnhausen, als sein Schüler habe ich das auch gespielt. Er ist einer der Menschen, denen ich verdanke, dass wir hier heute so ein Gespräch führen. Als Teenager habe ich ihm aus Kapstadt einen Brief geschrieben, nachdem ich ein Interview mit ihm im „Recorder Magazine“ gelesen hatte. Daraufhin rief er mich an und lud mich nach München ein, wo ich dann schließlich privat bei ihm studiert habe. Das Stück ist hier hervorragend gespielt, klingt nach einer Sopranino. Bei so schnellen Läufen ist es aber um so schwerer, den Spieler zu erkennen. Vermutlich ist es jemand, der oder die noch relativ jung ist. – Ah, Kristine West? Ich kenne Bach-Aufnahmen von ihr, die sehr gut sind.
Das könnte die Familie Petri sein (lächelt). Zufälligerweise ist dies meine allererste CD gewesen, die kenne ich in- und auswendig. Sie beginnt mit „Greensleeves“, was ich als Kind oft habe laufen lassen, um selbst dazu zu spielen. 2021 habe ich Michala zum ersten Mal persönlich in Kopenhagen getroffen, ich habe sehr großen Respekt vor ihr. Wie sie hier den „Hummelflug“ spielt, so präzise, und das schon in den Achtzigern – das hat ihr damals, glaube ich, niemand nachgemacht. In meinen Augen liegt da auch ihre Stärke, in der Moderne, da ist ihre Intonation wirklich sehr gut. Sie hat auch einige schöne Barockaufnahmen gemacht, allerdings hat sie sich nie besonders mit der Aufführungspraxis beschäftigt. Was ihr auf jeden Fall gelungen ist – und was im Grunde jeder Interpret versucht: Sie hat einen unverwechselbaren Klang entwickelt, der etwas sehr Präsentes hat und in allen Registern ausgewogen ist. Eine Petri-Aufnahme würde man nicht verwechseln.
Das ist Dorothee, das höre ich am sehr schnellen Vibrato am Ende von bestimmten Tönen, da zieht sie die Intonation einen Hauch nach unten. Ich meine, darin einen Einfluss zu hören von Vorbildern wie Frans Brüggen oder auch Hugo Reyne. Dorothee und ich tauschen uns oft miteinander aus. Sie ist zum Beispiel schon viel länger Professorin als ich, da habe ich sie schon das eine oder andere Mal um Rat gefragt.
Entschuldigung, aber ich höre da keine Blockflöte. Was ist das? Können Sie es einmal ganz von vorne abspielen? Ja, jetzt erkenne ich es (geht zum Klavier): Diese tiefen Intervallsprünge am Anfang, an die kann ich mich erinnern. Wenn das eine Aufnahme der Uraufführung ist, dann ist es Melanie Horne am Klavier. Ich finde es wahnsinnig gut, wie mein Vater komponiert hat. Allerdings: Wenn man ein Stück so schreibt, dass es wie eine Mischung aus Strawinsky und Schostakowitsch klingt – da hätte ich meinen Vater heute gefragt: Warum machst du das? Es ist verdammt kluges Handwerk, aber beim Hören sind meine ersten Assoziationen Schostakowitsch und Strawinsky. Für mich besteht Kunst immer auch darin, dass wir mit dem Publikum etwas Privates und Eigenes teilen. Hier fehlt mir, bei allem Respekt vor meinem Vater, die Eigensprache.
Das ist beeindruckend, so etwas würde ich sehr gerne selbst können. Ich begrüße es auch, wenn Studierende von mir so eine andere Spielweise einmal ausprobieren. Je mehr Gewürze wir in der Musikwelt haben, desto besser. Und für Experimente sehe ich bei der Blockflöte noch viel Spielraum. Weniger Spielraum sehe ich dagegen bei den Veranstaltern, da haben leider immer noch viele Angst vor Blockflöte, obwohl fast jedes Jahr ein Flötist mit einem wichtigen Musikpreis ausgezeichnet wird. Das Publikum wäre das geringste Problem, außerdem gibt es viel Repertoire, vor allem aus der Moderne, und viele hervorragende Interpreten, die alle dafür brennen. Es ist immer wieder wunderbar, zu sehen, wie die Blockflötenwelt – angefangen bei Brüggen, Petri oder Walter van Hauwe –, wie wir alle daran arbeiten, dass dieses Instrument genug Ansehen erlangt.