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BLIND GEHÖRT RUDOLF BUCHBINDER

„Wenn er Glück hat, wird er nur nach Sibirien geschickt“

Der Pianist Rudolf Buchbinder hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonGregor Burgenmeister,

Seit dem concerti-Interview 2010 hat sich die Zahl der Partituren von Beethoven-Sonaten, die Rudolf Buchbinder leidenschaftlich sammelt, von 32 Ausgaben auf 38 erhöht. Gerade hat er erfahren, dass zuhause das neueste Exemplar auf ihn wartet und kann es kaum erwarten, diese zu studieren. Obwohl Buchbinder, der selbst über 100 CDs eingespielt hat, seit über 30 Jahren keine Aufnahmen mehr anhört (nicht einmal die eigenen), lässt sich der Wiener Pianist anlässlich des ersten Abends seiner zyklischen Aufführung der Beethoven-Sonaten in Berlin auf das Wagnis ein, eine Auswahl der unendlich vielen Einspielungen des „Neuen Testaments“ für Pianisten blind zu hören.

Beethoven: Klaviersonate Nr. 17 d-Moll op. 31/2 „Der Sturm“, 1. Satz

Friedrich Gulda (Klavier)
1967. amadeo

(kurz nach der Einleitung) Das könnte Friedrich Gulda sein. Wir hatten ja mit Bruno Seidlhofer denselben Lehrer und kannten uns wirklich sehr gut. Gulda hat einmal etwas Interessantes gesagt, was für mich ein großes Kompliment war, denn ich war immer ein Gulda-Fan (in breitestem Wienerisch): „Den eenzigen, den i gelten loss´, is der Buchbinder.“ Da war ich noch ein kleiner, unbekannter Pianist. Ich habe diese Aufnahme zwar nie gehört, aber das ist sein Stil. Zu der Zeit hat er extrem hektisch gespielt. Schon beim ersten Aufgang hält er nicht einmal die Pause und geht sofort weiter. Damals hat er nicht geatmet. Das ist das ewige Suchen, er treibt extrem vorwärts. Ich sage es auch immer bei Meisterkursen: Das Wichtigste in der Musik ist das Atmen. Man kann Pausen verlängern, aber nie verkürzen. Nicolaus Harnoncourt ist ein Meister im Verlängern von Pausen. Gulda hat das Atmen erst später, besonders bei den Mozart-Sonaten, gelernt. Die Waldstein-Sonate oder op. 111, das waren Guldas Stücke. Das Motorische, da hatte er seine Stärken. Mit der op. 109 andererseits hatte er immer Probleme. Gulda konnte sein ganzes Leben kein Rubato machen. Als er einmal das Es-Dur Impromptu von Schubert in einem Konzert extrem langsam spielte, erklärte er es Seidlhofer so: „Die Leute schimpfen immer, dass ich so schnell spiele, also habe ich heute einmal langsam gespielt“. (lacht)

Beethoven: Klaviersonate Nr. 23 f-Moll op. 57 „Appassionata“, 1. Satz

Claudio Arrau (Klavier)
1967. Decca

Hier ist die Pause am Anfang viel zu kurz. Ich habe die Appassionata noch nie so langsam gehört. Das muss ein alter Pianist sein. Backhaus ist es nicht, der spielt schneller. Wilhelm Kempff? Er tut sich richtig schwer, damit, er kämpft. Früher hat es beim Auto einen Choke gegeben, damit der Motor lauwarm wird. (lacht)

Arur Schnabel spielt Beethovens Klaviersonaten

Beethoven: Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106 „Hammerklavier“, 1. Satz

Artur Schnabel (Klavier)
1935. EMI Classics

Ein schönes Tempo. Sehr schnell, sehr verrückt! Das ist ein älterer Pianist. Ich respektiere sehr, wie er versucht, dem von Beethoven vorgegebenen Tempo näher zu kommen. Es könnte Backhaus sein, oder Arrau. Nein? Dann ist es Artur Schnabel. Ein ganz großer Beethoven-Interpret. Jetzt verstehe ich Beethovens Metronom-Angabe. (lacht) Die Tempofrage ist immer ein großes Problem bei Beethoven. Das von ihm vorgeschriebene Tempo bei der Hammerklaviersonate ist unspielbar. Manche Kollegen und Wissenschaftler sagen, sein Metronom sei kaputt gewesen. Das Phänomen ist aber, dass die Hammerklaviersonate fünf Sätze hat und bei den anderen vier Sätzen die Vorgabe stimmt. Ob er sein Metronom nach dem ersten Satz repariert hat? Das ist doch Blödsinn. Beethoven hat in einem Brief ganz deutlich geschrieben, dass das Metronom nur für die ersten sieben Takte gilt, um den Charakter zu zeigen. Danach kann man es ja langsamer spielen. Glücklicherweise gibt es keine authentische Wiedergabe. Das ist auch der Grund, warum diese Musik unsterblich ist. Sie können Beethovens fünfte Sinfonie von zehn großen Dirigenten hören, zehn mal komplett anders, aber zehn mal großartig. Deshalb sage ich zu Freunden, sie sollen sich sofort eine andere Aufnahme von ihren Lieblingsstücken besorgen. Sonst identifizieren sie sich mit einer Interpretation, gehen ins Konzert, hören es ganz anders und sind dann enttäuscht.

Glenn Gould spielt Beethoven

Beethoven: Klaviersonate Nr. 30 E-Dur op. 109, 3. Satz

Glenn Gould (Klavier)
1956. Sony Classical

Sehr schnell und sehr frei. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wer das sein könnte. Tut mir leid, das stimmt doch rhythmisch nicht, das ist vollkommen falsch gespielt. Jetzt macht er auch noch einen Walzer daraus. Man darf sich viele Freiheiten nehmen, aber das hier geht nicht. Ist das Glenn Gould? Er war ein sehr interessanter Mann, ich finde aber, dass er besser war, solange er öffentlich auftrat. Ich weiß nicht, warum er sich so zurückgezogen hat, meiner Meinung nach ist es jedoch nicht zu seinem Vorteil gewesen. Er war wahrscheinlich auf der Suche nach etwas, das er nie gefunden hat.

Beethoven: Klaviersonate Nr. 31 As-Dur op. 110, 1. Satz

Stephen Kovacevich (Klavier)
1973. EMI Classics

Der Anfang ist wirklich sehr schön. Wunderbar, wie er hier singt! Aber jetzt sind die rechte und die linke Hand nicht zusammen. Das ist oft das Problem bei solchen Stellen. Wenn die linke Hand wie eine zweite Geige im Quartett eine Begleitung spielt, dann muss sie ganz genau im Takt sein, denn in der rechten Hand kommt die erste Geige. Stellen Sie sich vor, der zweite Geiger finge plötzlich ein Rubato an – wenn er Glück hat, wird er vom ersten Geiger nur nach Sibirien geschickt und nicht gleich umgebracht! Das Rubato macht der erste Geiger, nicht der zweite!

Beethoven: Klaviersonate Nr. 31 As-Dur op. 110, 3. Satz

Rudolf Buchbinder (Klavier)
2010. RCA Red Seal

(nickt schon bei den ersten Tönen zustimmend und sagt nach wenigen Takten) Das ist wirklich gemein, das ist meine eigene Aufnahme. (lacht) Sämtliche meiner Aufnahmen sind zuhause, originalverpackt in Zellophan. Ich höre sie nie wieder an. Das einzige, was ich ab und zu anhöre, sind Aufnahmen aus meinen Kindertagen. Wissen Sie, wie ich erschrocken bin, als ich von mir eine Aufnahme mit der As-Dur-Etüde op. 25 von Chopin als Acht- oder Neunjähriger hörte? Es ist unglaublich, wie man als Kind instinktiv richtig spielt. Später fängt man an zu grübeln, besorgt sich 38 Partituren der Beethoven-Sonaten. Da muss man aufpassen, dass man bei aller Forschung dieses spontane, instinktive Musizieren nicht verliert. Ich habe von Joachim Kaiser, der mich auch dazu gebracht hat, die Beethoven-Sonaten neu aufzunehmen, gelernt, dass nur Wissen frei macht. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Menschen Beethoven, den verschiedenen Ausgaben ist das Fundament. Das ist wie bei einem Haus: Je besser der Keller gebaut ist, desto freier bin ich mit der Architektur. Außerdem hat man eine gewisse automatische Bremse im Hinterkopf, wie weit man die Freiheit ausloten kann. Als Student ist man absolut intolerant, unflexibel und wahnsinnig engstirnig. Ich werde nie vergessen, wie wir als junge Studenten Pablo Casals mit den Bach-Suiten gehört haben und sagten: Wie kann man Bach mit so viel Rubato und so frei spielen? Heute denke ich, warum denn nicht? Deswegen identifiziere ich mich überhaupt nicht mit meiner ersten Aufnahme von vor über 30 Jahren. Wenn ich die heute anhören müsste, würde ich davon rennen. Um es brutal zu sagen: Andererseits war das für mich eine wichtige Schule. Durch die eigenen Fehler lernt man am besten. Man muss nur lernen, sie zu erkennen.

Beethoven: Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111, 2. Satz

Sviatoslav Richter (Klavier)
1991. Decca

Ich traue mich nicht zu sagen, dass es Gilels ist, den ich wirklich sehr schätze. So würde er es nämlich nicht spielen. Ist es Richter? Bei Beethoven habe ich Gilels wesentlich lieber. Auf dem Weg hierher habe ich im Autoradio den zweiten Satz des fünften Konzerts von Beethoven gehört, gespielt von Kissin. So langsam habe ich den Satz noch nicht gehört. Dabei ist das kein langsamer Satz. Beethoven schreibt „un poco moto“ und „alla breve“. Wenn man es so spielt, wie Beethoven es vorschreibt, nämlich mit einem Bogen über zwei Takte, ergibt sich automatisch das richtige Tempo. Die meisten Orchester teilen das aber in zwei Bögen auf und können es so doppelt so langsam spielen, was völlig dem widerspricht, was Beethoven vorschreibt. Es ist in Russland aufgekommen, vor allem durch Richter, z.B. bei der B-Dur Sonate von Schubert, dass der zweite Satz zu einem sehr langsamen Adagio wird. Diese Übertreibung der langsamen Sätze ist eine eigenartige Mode gewesen.

Beethoven: Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111, 2. Satz

Arturo Benedetti Michelangeli (Klavier)
1965. Decca

Ja, genau, sehr schön ist das! Ich weiß nicht, wer das ist, auf jeden Fall gefällt es mir sehr gut. (lauscht andächtig und offensichtlich angetan) Das könnte auch von mir sein, ist es aber nicht. Wer spielt das? Michelangeli? Er hat ja nur sehr wenige Beethoven-Sonaten gespielt. Diese Aufnahme habe ich nicht gekannt von ihm, das ist wirklich sehr gut gespielt!

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