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Blind gehört Midori Seiler

„Das ist gefürchtet!“

Die Geigerin Midori Seiler hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass sie erfährt, wer spielt

vonStefanie Paul,

Die schlanke Frau öffnet die Tür zu ihrem Studio in der Kölner Innenstadt. Die schweren Dielen des Holzfußbodens knarzen, an den Wänden stehen Regale, vollgepackt mit Fachliteratur, mitten im Raum ein Cembalo. Es gibt grünen Tee und noch ein Stück vom Geburtstagskuchen der Tochter. Aufmerksam, ja fast schon bedächtig lauscht Midori Seiler den Werken, manchmal bis zum Ende eines Stücks, manchmal nur einige Sekunden. Ihre Worte wägt die Barock-Geigerin genau ab: Harsche oder allzu schnelle Kritik ist nicht ihre Sache. Zumal: „Wir alle stecken unser ganzes Herzblut in die Musik.“

Bach: Brandeburgisches Konzert Nr. 6 B-Dur

Freiburger Barockorchester

 2014. harmonia mundi

  

Sechstes Brandenburgisches … das müsste dieser sogenannte Bach-Stimmton sein – 402? Entweder stimmt etwas mit der Aufnahme nicht oder sie haben tatsächlich einen tiefen Stimmton gewählt. Ich mag dieses Konzert wahnsinnig gern! Es beschließt den Zyklus von diesen sechs Brandenburgischen Konzerten und ich finde das toll, wie Bach, nachdem er diesen ganzen Zauber veranstaltet hat – mit den unterschiedlichsten Konstellationen der Instrumente, diesem wahnsinnig konzertanten dritten Konzert, wo jedes Instrument solo spielt und dem super virtuosen vierten Konzert – mit den Mittelstimmen endet. Wir haben hier zwei Bratschen und zwei Gamben und überhaupt nicht diese Sopranlage, die unser Ohr normalerweise so dominiert: Der Zyklus geht nicht mit einem Feuerwerk zu Ende, wie es der heutige Konzertbesucher oft erwartet, sondern es geht in der Mitte zu Ende.

 

Beethoven: Erzherzog-Trio

Gerhard Oppitz (Klavier), Dmitry Sitkovetsky (Violine), David Geringas (Cello)

1990. Novalis

 

Okay, stopp – da muss ich passen. Das habe ich nie gespielt und auch bisher in keinem Konzert gehört. Es ist Beethoven, das ist klar … ein Scherzo? Aber welches Stück genau, keine Ahnung. Ich habe nicht wirklich viel Klaviertrio gespielt; viele Duos, das ja, auch Quartett, aber bei den Trios muss ich passen.

Schubert: Violinsonate A-Dur D 547

Gernot Süssmuth (Violine), Frank-Immo Zichner (Klavier)

2012. querstand

  

Das Stück ist natürlich klar, das kennt jeder Geiger: die Sonate in A-Dur von Franz Schubert. Das ist wie alle Werke von Schubert recht komplex, nicht einfach zu spielen – es ist sozusagen gefürchtet, wenn auch nicht ganz so sehr wie seine Fantasie. Gefürchtet deshalb, weil Schubert sehr kompromisslos schreiben kann. Das macht er nicht immer, aber sehr oft. Er schreibt so, wie er es gerade braucht, wie er es sich vorstellt und nicht, wie es in der Geige drin liegt. Gefürchtet deshalb, weil es schwierig zu spielen ist – gerade auch im Zusammenspiel mit dem Klavier. Und wie immer bei Schubert hat man diese Komplexität: Das bedeutet, auch wenn ein Stück in Dur ist, schwingt immer noch etwas ganz anderes mit. Als Künstler ist man da sehr gefordert, das Ganze wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen.

  

Bach: Partita für Violine solo Nr. 2 d-Moll

Gidon Kremer (Violine)

1981. Decca

   

Das Stück ist natürlich klar – aber der Interpret? Da weiß ich überhaupt nicht, wer das sein könnte. Auf jeden Fall ist es keine historische Aufführungspraxis … ein Geiger oder eine Geigerin? Ich denke, es ist ein Geiger: Er hat sich dafür entschieden, die Tonart d-Moll vor allem unter dem dramatischen Aspekt zu betrachten. Recht flottes Tempo, recht griffig, sehr dramatisch, fast schon stürmisch in der Wiederholung. d-Moll hat natürlich eine große Bandbreite an Möglichkeiten zum Affekt – die Dramatik ist eine dieser Möglichkeiten. Was ich allerdings für diese ganze Partita stimmiger finde, ist der Aspekt der Transformation, der Wandelbarkeit: Die Existenz eines Menschen im Diesseits und seine Wandlung in jene andere Welt, die Bach immer wieder zitiert – und auch herbeisehnt. Diese Dreidimensionalität von d-Moll finde ich wichtiger als das Dramatische.

Musik für Geige solo hat ja auch immer wieder das Thema Mehrstimmigkeit – spannend ist hierbei die Platzierung, das Timing. Wenn man sich den Anfang anschaut: diese fallende Quint und noch eine fallende Quint – was aber macht der Bass dazu? Ist der nur ein schmückendes Beiwerk für die Quint? Oder ist er die Basis, damit oben überhaupt eine Melodie stattfinden kann? Ist er das Beiwerk, dann kann das Timing auf der Melodiestimme sitzen – ist der Bass aber die Basis, dann muss der Bass am Puls sein und der Geiger muss suggerieren, dass er am Puls ist. Diese Entscheidung bestimmt sehr stark, was aus einem Stück wird. In diesem Fall hat sich der Geiger für das erste Modell entschieden, die Melodiestimme hat das Sagen – aus der alten Musik kommend, würde ich es genau andersherum machen.

Beethoven: Sonate Nr. 7 C-Dur

Jos van Immerseel (Pianoforte), Jaap Schroeder (Violine)

2010. deutsche harmonia mundi

  

Hmm … ich komm nicht drauf, welche der Sonaten das ist. Bin ich das …? Manche Details kommen mir doch fremd vor, etwa Artikulation und Vibrato … am Klavier spielt Jos van Immerseel: Das Klavier, also das Instrument selbst, ist mir gleich bekannt vorgekommen – die Geige hingegen nicht. Eine tolle Aufnahme, sehr spritzig und sprechend.

Händel: Sonate g-Moll

Julia Schröder (Violine), Giorgio Paronuzzi (Cembalo)

2011. deutsche harmonia mundi

G-Moll auf jeden Fall, Italien, so viel ist auch klar … oder? Ja doch, ich denke schon. Super gespielt, Respekt! Ganz tolles Geigenspiel, tolle Bogensprache und Klang, tolle Verzierungen.

 

 Bach: Partita Nr. 3 E-Dur

 Midori Seiler (Violine)

 2011. Berlin Classics

   

Das bin ich, oder? Na, Gott sei Dank habe ich mich selbst erkannt! Das ist mal eine einfache Übung, mit Bachs Solowerken gerate ich selten in Verlegenheit: Das sind Menuet I und II, nacheinander gespielt – das Menuet I kommt dann wieder im Da capo. Da gibt es immer wieder die Diskussionen, wie das mit den Verzierungen in der Wiederholung sein soll: Ich bin da bei Bach ziemlich puristisch.

Schon zu seiner Zeit gab es diese Kontroverse: Bach wurde ja dafür angefeindet, dass er den Musikern keine Freiheiten lässt in punkto Verzierung. Normalerweise hat man den Musikern damals zumindest in den langsamen Sätzen ein Gerüst gegeben aus ganz simplen Melodien und da war dann die ungeschriebene Aufforderung dabei: Mach was damit, zeig’, was du für ein Musiker bist, zeig’ deinen Geschmack, dein Geschick. Und jeder Musiker, der etwas auf sich hielt, hat dann möglichst  krasse Verzierungen gemacht. Wir haben heute in manchen Editionen sogar verschiedene Verzierungstabellen von Geigern wie zum Beispiel Geminiani oder Tartini. Bei Bach sind auf jeden Fall die wesentlichen Manierismen möglich, ganz kleine Verzierungen wie Triller oder kleine Schleifer. Damit kann man in der Wiederholung sehr gerne etwas machen – oder eben auch nicht: so wie ich.

Telemann: Tafelmusik in 3 Sätzen, Quartett G-Dur

 Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel

 1995. Archiv Produktion

 

Ich würde schätzen, eine Sonate für Oboe, Travers-Flöte, Geige und Basso Continuo – vermutlich ist das ein Zwischensatz. Welcher Komponist? Ich tippe auf Telemann. Sehr frisch gespielt, phantasievoll artikuliert, gut gemacht. Über die Interpreten kann ich nichts sagen: Auf jeden Fall ein hochprofessionelles Ensemble, zu meckern gibt es da nichts. Allenfalls meine gern formulierte Aufforderung: Rechts vor links, bitte – die rechte Hand verantwortet Stimme und Sprache, die linke Hand greift die Noten. Die rechte Hand sorgt für die Artikulation, die Phrasierung, die Klanggebung – im Umfeld der modernen Geige lernt man, dass der Klang etwas ist, das vor allem durch die linke Hand bestimmt werden kann. Ich selbst hingegen habe immer das Anliegen, möglichst weit ohne Vibrato zu kommen: also nur mit den Möglichkeiten des Bogens – das Vibrato kommt zu guter Letzt, als i-Tüpfelchen. Für mich ist das Vibrato immer dann problematisch, wenn es automatisiert wirkt, wenn ein Klang gespielt wird und es ist automatisch dabei.

 Bach: Brandeburgisches Konzert Nr. 2 F-Dur

 Akademie für Alte Musik

 2010.harmonia mundi

   

Zweites Brandenburgisches – ich bin mir aber nicht sicher, wer es ist … ich glaube, es ist nicht Akamus – oder doch? Irgendwie habe ich das Stück anders in Erinnerung. Wir haben es nach dieser Aufnahme aber auch sehr oft im Konzert gespielt und wahrscheinlich hat es sich im Laufe der Jahre verändert. Das letzte Mal, als ich das Stück gespielt habe, klang es auf jeden Fall anders … aber die Aufnahme ist sehr schön gespielt, ja, ich finde sie wunderbar. Da spielt Marion Verbruggen, eine wirklich wunderbare Flötistin und eine ganz tolle und beeindruckende Frau. Bei diesem Projekt habe ich viel von ihr gelernt: Man hört schon nach wenigen Tönen, dass das ein ganz inspiriertes Blockflötenspiel ist – und das kann ich wirklich nicht über jede Blockflöte sagen.

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