Startseite » Interviews » Blind gehört » Die Balance zu finden ist sehr schwer

Blind gehört -Martin Helmchen

Die Balance zu finden ist sehr schwer

Der Pianist Martin Helmchen hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonArnt Cobbers,

Martin Helmchen gilt als einer der vielversprechendsten jungen Pianisten. Als erster West-Berliner überhaupt absolvierte er das (ehemals Ost-Berliner) Musikgymnasium Carl Philipp Emanuel Bach, studierte an der Hochschule Hanns Eisler und in Hannover. Beim CD-Hören hört er über längere Strecken genau zu, bevor er etwas sagt. Manchmal spult er zurück, um etwas noch einmal genau zu hören, manchmal vor zu bestimmten Stellen oder zum nächsten Satz.

Schumann: Klavierkonzert

Christian Zacharias

Orchestre de Chambre de Lausanne 2000

MDG

Mir gefällt, dass das Tempo sehr schön kohärent ist. Das ist das Hauptproblem des Schumann-Konzerts, man wechselt alle acht Takte das Tempo, und dadurch zerfällt das Stück. Ich habe es oft gespielt bei wichtigen Konzerten, und immer wieder anders, ich bin noch auf der Suche. Man ist so belastet von der Aufführungstradition… (nach vier Minuten) Das ist ganz wunderbar! Sehr frei und exzentrisch, aber auf eine Art, die Schumann gerecht wird. Auch dieser Mittelteil hier ist nicht zu langsam. Da kann man sich Schumanns Tempoangabe, die wahnwitzig schnell ist, nur nähern. Und zugleich muss man versuchen, diese Traumstimmung zu schaffen, ohne in ein Adagiotempo zu fallen. Hier ist es ziemlich schnell, aber ruhig und frei. Argerich ist es nicht. Zacharias? Verrückt. Ich habe die CD in Vorbereitung auf meine eigene Aufnahme gehört. Ich fand sie vom Konzept her toll, hatte aber gedacht, dass Argerich und Dinu Lipatti vom Pianistischen her noch ein Quäntchen besser wären. Das würde ich jetzt nicht mehr sagen. Auch das Orchester ist hervorragend.

Schubert: Moments Musicaux D 780 Nr. 2

Andantino

Mitsuko Uchida 2001

Philips

Auch das finde ich ganz wunderbar. Und das ist wahrscheinlich das größte Kompliment bei einem Stück, das man selbst aufgenommen und intensiv erarbeitet hat. Da ist man fast nie mehr zufrieden. Aber diese Aufnahme ist phantastisch. Der Klang ist ganz toll. Es pulsiert und schwingt in diesem langsamen Tempo, und das ist sehr schwer – es wird leicht statisch. Und es ist wunderbar ausbalanciert: Man muss sich sehr zurücknehmen – Schubert drängt die Melancholie, diesen Schmerz nicht auf, es ist zurückgenommen und dadurch noch berührender, aber man darf auch nicht zu wenig machen, dann kippt es ins Dahintändelnde. Diese Balance finde ich wunderbar hier. Sehr poetisch, kein Rubato zuviel und trotzdem nicht langweilig. Ich tippe auf jemand, der viel Schubert spielt. Mitsuko Uchida? Darauf hätte ich kommen müssen. Ich fahre ab und an zu ihr nach London und bekomme eine Klavierstunde. (lacht) Wie an der Hochschule. Ich spiele, sie redet über das Stück und sagt, was ihr stilistisch nicht gefällt. Das ist nicht unbedingt gute Pädagogik, sie ist eine sehr starke Persönlichkeit. Aber wenn man in seinem Stil halbwegs gefestigt ist, kann man viele Anregungen mitnehmen. Ich bin einmal von ihr weggefahren und dachte, ich war noch nie würdig, auch nur einen Ton Mozart gespielt zu haben. Das kann einem einen Knacks geben. Aber ich finde es enorm wichtig, dass man Ohren von außen hat. Dieser Austausch ist wichtig, sonst bleibt man stehen. Das werde ich noch mit 50 machen. Meine erste Soloaufnahme war Schubert, und wenn ich etwas für mich selbst zum Genuss spiele, lande ich meist bei Schubert. Schubert und Bach stehen mir schon am nächsten. Ich empfinde Schuberts Musik als noch persönlicher als Beethoven oder Mozart. Mich berührt es, wie sehr man die Person durch die Musik hindurch spürt. Er ist nicht mit dem Kopf durch die Wand gegangen wie Beethoven. Mich berührt dieses Sich-Ergeben im lustigen Kehraus-Finalsatz, der keiner ist, oder im endlosen Gesang des vierten Satzes der A-Dur-Sonate. Dieses Sich-Auflösen in Dur-Schönheit, die viel trauriger ist als alles andere. Dass berührt mich sehr, obwohl ich eigentlich ein sehr optimistischer und positiver Mensch bin.

Bach: Suite française Nr. 6 E-Dur BWV 817

Fazil Say 1998

Warner

Das ist auch sehr schön, sehr lebendig. … (Sarabande) Hier gefällt es mir nicht mehr ganz so gut. Die größte Schwierigkeit in der Barockmusik liegt für mich darin, den innigen Ausdruck zu finden in den langsamen Sätzen, ohne romantische Mittel zu benutzen. Das Problem ist nicht die Intensität oder die Subjektivität des Ausdrucks, sondern es sind die Mittel, die man benutzt: die Rubati, der Pedalgebrauch, die Akkordfärbungen. Da gibt es bei jedem Instrument Dinge, von denen man sich mit Gewalt losreißen muss, weil man sie im Blut hat. Es gibt im Barock andere Mittel als in der Romantik. Und wenn man die findet, ist der Ausdruck herzzerreißend größer, als wenn man es romantisiert spielt. Das gelingt hier nicht ganz, finde ich, diese Zurücknahme hier zum Beispiel kommt mir leicht chopinesk vor. … (Gavotte) Nein, das ist zu viel des Bäuerlichen. Die ersten beiden Sätze fand ich sehr schön. Insgesamt schön gespielt, vom Klangbild finde ich es ein bisschen hart, aber von der Stilistik überzeugt es mich nicht ganz.

Messiaen: Vingt Regards

Pierre-Laurent Aimard 1999

Teldec

(hört in mehrere Sätze hinein) So gut sind nur Aimard und Steven Osborne. Lassen Sie mich diese eine Stelle hören. Ja, das ist Aimard. Das ist natürlich eine sensationelle Aufnahme. Aber ich mag Roger Muraro und Osborne noch lieber, weil sie noch emotionaler rangehen. Man merkt Aimard an, dass er sehr Boulez-beeinflusst ist, er kann mit der Fuge mehr anfangen als mit den, wie Messiaen sagt, wollüstig mystischen, religiös-ekstatischen Stücken. Das letzte Stück zum Beispiel ist nur noch Klang und Ekstase, das bleibt mir bei Aimard zu trocken. Da will Messiaen einfach den Rausch. Aber solche Sätze wie die Fuge, das sind Jahrhundertaufnahmen, so wie Aimard können nur wenige Leute Klavier spielen. Das ist der einzige Zyklus geistlicher Musik, den es überhaupt gibt für Klavier. Er ist in jedem Aspekt so reich und erfindungsreich, eine Riesenherausforderung. Osborne spielt die 20 Stücke ohne Pause in einem durch, das ist schon ein einmaliges Erlebnis. Ich spiele oft einzelne Stücke, und das Publikum redet nach dem Konzert fast immer zuerst vom Messiaen. Ich bin gerade dabei, den ganzen Zyklus zu lernen. Man muss zuerst seine eigene Interpretation finden, aber bevor man das abschließt, sollte man sich Aufnahmen anhören – weil man vielleicht etwas übersehen hat. Das ist wie im Unterricht. Manchmal gibt es noch ein Detail, das jemand anderes gefunden hat und das manches in neuem Licht erscheinen lässt. Das hat nichts mit Ideenklau zu tun. Im Arbeitsprozess übersieht man manchmal Dinge.

Beethoven: Klavierkonzert Nr. 3

Swjatoslaw Richter (Klavier)

Wiener Symphoniker

Kurt Sanderling (Leitung) 1962

Deutsche Grammophon

(Orchestereinleitung) Das klingt toll! Ist das Furtwängler? … Schade, es bleibt ein bisschen zu dick im zweiten Thema, da hätte ich mir mehr Kontrast gewünscht. … Wow, der Akzent war ja schon Harnoncourt. … (das Klavier setzt ein) … Hm, schwer. Sehr viel Oberstimme, sehr gute Technik, das merkt man an den zwei kleinen Trillern am Anfang, die ganz fürchterlich sind. … Hier steht eigentlich Bogen, Staccato, wieder Bogen. Das hatte er vielleicht nicht in seiner Edition. Es ist insgesamt ein bisschen schwer. Es hat eine Würde, aber mir fehlt etwas Euphorie und Energie. Es könnte ein russischer Pianist sein – wegen des Oberstimmenklangs in den melodischen Stellen. Es könnte Richter sein, aber dann ist es nicht die Aufnahme, die ich kenne. Ich hatte eine russische Lehrerin in Berlin, das stimmt. Heute ist vieles wegglobalisiert, aber manches hat sich erhalten. Zum Beispiel wird der Oberstimme viel Gewicht beigemessen. Jeder einzelne Ton der Oberstimme muss singen und zu hören sein, dafür opfert man auch mal Phrasierungen oder sogar Mittelstimmen und die Bassbalance. Das spürt man auch in dieser Aufnahme. Ganz wichtig ist auch ein gesunder Bewegungsapparat – dass der Körper so eingestellt wird, dass man die Gewichts- und Bewegungsenergie für schönen Klang nutzt, der Klang an sich ist ein höheres Ideal als anderswo. Und natürlich auch die Virtuosität. Wir haben es in Fortsetzung der Liszt-Tradition schon den Russen zu verdanken, dass das pianistische Niveau heute so hoch ist. Für mich war diese Ausbildung sehr wertvoll. Ich denke, ich kann besser Schubert und Bach spielen, weil ich so viel Liszt und Chopin gespielt habe. Mein Interesse liegt im Moment sehr auf der Wiener Klassik und bei Bach, aber es kommt garantiert auch wieder eine virtuose Phase.

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!