Startseite » Interviews » Blind gehört » „Ich würde gerne wissen, wie lange die das proben“

Blind gehört Jörg Endebrock

„Ich würde gerne wissen, wie lange die das proben“

Jörg Endebrock hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonMaximilian Theiss,

Zweimal im Jahr macht sich die Zeitversetzung, der man als Mitarbeiter eines monatlich erscheinenden Kulturmagazins ausgesetzt ist, besonders bemerkbar, nämlich dann, wenn man sich bei spätsommerlichen Temperaturen durch die ersten Weihnachtsalben hört. Und wenn man sich zur Hochphase der närrischen Faschingszeit Passionsmusiken aussetzt. Jörg Endebrock geht es da nicht anders: Als Kantor der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis ist auch er mit der Probenarbeit für die kirchlichen Hochfeste seiner Zeit stets voraus.

J. S. Bach: Matthäus-Passion – Eingangschor

Pygmalion, Raphaël Pichon (Ltg)
harmonia mundi 2021

Ist das Vox Luminis? – Pygmalion! Es ist sehr schön gesungen, sehr legato. Das hört man oft zerhackt. Deshalb versuche ich selbst immer, dass der Chorklang fließt, dass er nicht zu instrumental klingt. Bach komponierte ja für Vokalstimmen genauso wie für Instrumente. Trotzdem finde ich es wichtig, dass es immer gesungen klingt. Herreweghe geht übrigens den anderen Weg: Der holt sich die Streicher zu einer Einzelprobe und arbeitet dann mit ihnen so lange, bis die Instrumente klingen, als würden sie singen. Aber zu dieser Aufnahme hier: Für meinen Geschmack ist es zu schnell. Wobei das immer die große Frage ist: Wie interpretiert man den Eingangschor? Ist es das lastende Klagen, oder eher die Bewegung der Volksmenge, die da abgebildet wird? Ich selbst werde jedes Jahr immer langsamer – vielleicht eine Altersfrage. Bei dieser Aufnahme ist mir das zu tänzerisch, da fehlt mir der Ernst und die Tragik. Bei französischen Ensembles fehlt mir oft die Tiefe, was die Textaussage angeht. Das wiederum ist bei dieser Aufnahme sehr gelungen.

J. S. Bach: Johannes-Passion – Eingangs­chor

Monteverdi Choir, English Baroque Soloists, John Eliot Gardiner (Ltg)
Deutsche Grammophon 2021

Ist das Gardiner? Das ist quasi meine erste Aufnahme der „Johannes-Passion“ von 1991. – Ach, das ist eine Neuaufnahme? Während Corona unter Abstandsregelungen eingespielt? Und trotzdem habe ich sofort Gardiner erkannt, interessant! Mal sehen, wie das klingt, wenn der Chor einsetzt. Ja, jetzt erkennt man doch sehr deutlich die Unterschiede. Ich muss sagen, dass mir die früheren Gardiner-Aufnahmen mehr gefallen als die aktuellen. Die frühen Aufnahmen waren einfach makellos und perfekt. Hier ist der Chor nicht sehr homogen, da hört man die besonderen Umstände mit den Abstandsregelungen, unter denen die Aufnahme entstanden ist. Auch hier ist mir alles etwas zu beschwingt.

Martin: Golgotha – Prologue

Chor des BR, Münchner Rundfunkorchester, Marcello Viotti (Ltg)
Profil 2000

„Golgotha“! Habe ich zweimal gemacht, in Freiburg und Wiesbaden. Ist das die Aufnahme mit Daniel Reuss? – Münchner Rundfunkorchester! „Golgotha“ ist eine meiner Lieblingspassionen. Leider lieben Chöre das nicht so – oder erst ganz am Ende, dann aber umso leidenschaftlicher. Die Musik ist schwer und auch vielen sehr fremd. Schöner ist es mit französischem Text, da passt die Klangsprache besser. Aber dann macht man es den Chören hierzulande noch schwerer! Ergreifende Aufnahme.

Telemann: Brockes-Passion – Mein Vater

Johannes Weisser, Akamus Berlin, René Jacobs (Ltg)
harmonia mundi 2008

Gethsemane … Schöne Klangfarbe in den Bratschen! Das klingt so ein bisschen, als singe hier kein Muttersprachler, das kann aber auch täuschen. Ich bin ein großer Fan von diesem Stück. Ich habe es auch durch diese Aufnahme kennengelernt. Das war eine Offenbarung für mich: Telemann hat mich zuvor nie sonderlich begeistert, aber die „Brockes-Passion“ ist von Anfang bis Ende spannend. Allein schon die Ouvertüre mit dem Oboensolo! Großartig auch zum Schluss diese Wendung ins Sieghafte mit Trompete. Aber wie schon bei Händel gesagt: Die Chöre wollen halt auch ein bisschen was zu tun haben, und es ist eben ein Solistenstück. Hier auf dieser Aufnahme auch sehr schön von Akamus gespielt, tolles Orchester! Mit Akamus machen wir nächstes Jahr die h-Moll-Messe, da freue ich mich schon sehr drauf.

J. S. Bach: Johannes-Passion – Wer hat dich so geschlagen

Concerto Copenhagen, Lars Ulrik Mortensen (Ltg)
BIS 2022

Ist das solistisch besetzt? – Okay, zwei solistisch besetzte Chöre … Es ist sehr schön gestaltet vom Choral her, aber mir fehlt die Homogenität. Und hält man das als Zuhörer zwei, drei Stunden durch? Ob da die gewünschte Wirkung entsteht, hängt natürlich auch von der Akustik und von der Größe des Saals ab. Ist das Rifkin? – Concerto Copenhagen! Das Ensemble schätze ich sehr, in diesem Fall ist mir das aber zu kammermusikalisch. Bachs Chorpassagen in den Oratorien dürfen schon etwas Monumentales haben, finde ich.

J. S. Bach: Johannes-Passion – Wer hat dich so geschlagen

Münchener Bach-Chor & -Orchester, Karl Richter (Ltg)
Deutsche Grammophon 1964

Das ist bestimmt Karl Richter. Tja, in der Zeit war das schon das Nonplusultra an Bach, aber das kann man heute nicht mehr machen. Ich habe letztens ein Buch gelesen vom Kritiker Joachim Kaiser. Da schrieb er über eine Bach-Passion, die ihn überhaupt nicht berührt hätte – nicht so wie damals bei Richter, da wären alle Zuhörer im Himmel gewesen und hätten geweint. Aber wenn ich mir diese Aufnahme hier anhöre, kann ich mir das nicht erklären, weil da vieles einfach nicht gut ist, zum Beispiel schreien hier die Männerstimmen. Es ist überhaupt nicht phrasiert. Vielleicht kann man sich die Begeisterung aber so erklären, dass damals das Live-Erlebnis einen in den Bann schlug.

Jesus Christus Erlöser

Klaus Kinski
Random House 1971

Ich hab da gerade so einen Youtube-Mitschnitt vor Augen, wo der Kinski irgendwann das Publikum beschimpft, ist es das? – Sehr beklemmend, das geht einen so richtig an. Das hat so etwas Aggressives, das bis ins Mark trifft, man kann das schwer ertragen. Eher die Passion von Kinski als die von Christus: Man ist Zeuge des Verfalls dieses Menschen, ist einerseits fasziniert, aber andererseits auch voller Mitleid mit diesem Mann.

J. S. Bach: Oster­oratorium – Kommt, eilet und laufet

Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki (Ltg)
BIS 2004

Suzuki … Großartiges Ensemble! Ich finde es faszinierend, wie dieser japanischer Chor so perfekt das Deutsche aussprechen kann. Da würde ich gerne mal wissen, wie lange die das proben. Und immer extrem gute Instrumentalisten. Was Bach angeht, fast das Beste, was es gibt.

Reger: Sieben Orgelstücke op. 145 IV. Passion

Gerhard Weinberger (Orgel)
cpo 2015

Im Gegensatz zu vielen anderen Organisten habe ich keine besondere Liebe zu diesem Komponisten. Er hatte eine Phase, in der alles nur durcheinander, kompliziert und kaum noch nachvollziehbar ist. Einzelne Stücke von ihm finde ich aber sehr ergreifend, auch dieses hier, was wir gerade hören, auch wenn ich es nie gespielt habe. Gerade der späte Reger wird wieder verständlicher, da hat er auch fantastische Chorsachen komponiert.

Messiaen: Les Offrandes oubliées

Yvonne Loriod, Ensemble Ars Nova, Marius Constant (Ltg)
Erato 1975

Herrliches Stück! Es ist irrsinnig, dann kommt ein unglaublich schwerer Mittelteil, der die Sünde der Menschheit beschreibt, und danach ein ätherischer Ausklang mit dem Abendmahl. – Jetzt hören wir gerade Strawinsky durch. Ich habe das Stück schon vor dreizehn Jahren einmal gemacht. Das hat irre Spaß gemacht, auch wenn’s zuvor niemand kannte. Unglaublich wirkungsvoll, das Stück.

Liszt: Christus – Resurrexit

RSO Stuttgart, Gächinger Kantorei, Helmuth Rilling (Ltg)
hänssler 1998

Ich habe das „Christus“-Oratorium mal angefangen zu hören. Es ist sehr spezielle Musik, habe da keinen Zugang gefunden, obwohl ich auf der Orgel wahnsinnig gerne Liszt spiele. Die Chorstücke sind halt sehr schlicht, und es ist eine ganz merkwürdige Sprache, die er da hat. Also, ein ganzes Oratorium von Liszt würde ich nicht aufführen. – Helmuth Rilling und die Gächinger Kantorei? Die Aufnahme habe ich, meines Wissens gibt es auch nicht viele weitere Einspielungen vom „Christus“-Oratorium. Ab den Neunzigern hat sich der Klang des Chores verändert. Sehr schön eigentlich, aber die Art der Interpretation, gerade bei Bach, ist sehr speziell.

Wagner: Karfreitagszauber aus „Parsifal“

Wiener Staatsoper, Christian Thielemann (Ltg)
Deutsche Grammophon 2006

In meiner Jugend habe ich alle Wagner-Opern auswendig gelernt. Das ist jetzt nicht Domingo, oder? Der hat das mit Thielemann gemacht?! Ich find’s ja immer sehr interessant, dass man in Bayreuth nach dem ersten Akt nicht applaudieren darf, ansonsten wird man gnadenlos ausgezischt. Natürlich ist der Schluss des ersten Aktes ganz stark und hat diese Heiligkeit, aber es ist für mich nur eine Pseudo-Heiligkeit. Es ist eben Oper!

Album-Tipp:

Album Cover für Oskar Gottlieb Blarr: Jesus-Passion

Oskar Gottlieb Blarr: Jesus-Passion

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!