Aleksey Igudesman und Hyung-ki Joo sind vermutlich das humorvollste Duo der Klassik. Seit ihre Rachmaninow-Parodie im Internet große Verbreitung fand, touren sie mit ihrer Show durch die ganze Welt und beweisen, dass „E-Musik“ nicht immer ernst sein muss. Auch beim „Blind gehört“-Termin in Berlin wussten der russische Geiger und der koreanische Pianist die eine oder andere Pointe anzubringen.
Tschaikowsky: Violinkonzert D-Dur, 1. Satz
David Garrett (Violine), Russian National
Orchestra, Mikhail Pletnev (Leitung)
Deutsche Grammophon 2001
Aleksey Igudesman: Oh ja, ich liebe Mozart! Hyung-ki, glaubst du auch, dass es der Geiger ist, der ich denke, dass er es ist? Hyung-ki Joo: Woher soll ich wissen, was du denkst? Igudesman: Ich nehme stark an, dass es kein russischer Interpret ist. Wegen des Klangs und der Fingersätze. Spiele ich den Anfang auf der D- oder G-Seite? Für einen Russen wäre typisch, das auf der G-Seite zu spielen, mit einem volleren, tieferen Klang… Joo: Aber diese Stereotypen, „typisch russisch“ – die Tatsache, dass hier nicht in diesem Stil gespielt wird, finde ich erfrischend. Die Herangehensweise ist ein wenig jugendlich unschuldig, direkt … Igudesman: Würde ich das so spielen? – Nein. Würde ich das Tschaikowsky-Konzert überhaupt spielen? – Auch nein. (großes Lachen) Joo: Du hast es mal wie eine Ski-Abfahrt gespielt. Igudesman: Stimmt, zusammen mit Sebastian Gürtler. Wir haben gleichzeitig den Geigenpart gespielt, erst wurde der eine schneller, dann der andere und alles wurde wie bei einer Sportübertragung kommentiert; so eine Parodie auf Geiger, die sich bei bestimmten Werken beweisen wollen, wer der Schnellere ist. Joo: Wer auch immer das ist, es ist ein verdammt guter Geiger. Ich tippe auf David Garrett oder Ilya Gringolts. Igudesman: David ist extrem talentiert, mit 14 Jahren die Capricen von Paganini aufzunehmen, ist schon toll. Wir haben ihn live mit Beethovens Violinkonzert gehört, was sehr schön war. Joo: Und es ist nicht so, dass er Crossover macht, weil er nicht gut Geige spielen kann, das ist immer das große Missverständnis. Viele Leute mit elektrischer Geige und Rock-Elementen können tatsächlich nicht spielen, weil ihnen die Liebe und der ehrliche Zugang zur klassischen Musik fehlt. Doch David hat diesen Zugang.
Rachmaninow: Prelude cis-Moll op. 3 Nr. 2
Bernd Glemser (Klavier)
Oehms Classics 2006
Igudesman: Das ist auch kein Russe. Sonst würde er das (spricht mit tiefer Stimme) viel ernster und gesetzter spielen. Das hier hat eine Leichtigkeit, die ich bei diesem Prelude etwas seltsam finde. Ist es ein deutscher Interpret? Joo: Warum gehst du immer nach der Nationalität? Ich bin weder Russe noch Deutscher, wenn es eine Aufnahme von mir wäre, würdest du dann sagen „Oh, ein koreanischer Pianist“? Igudesman: Zumindest waren einige deiner wunderbaren Lehrer Russen. Und in deinem Spiel gibt es eine Sinnlichkeit und Finesse, die mir hier fehlt. Joo: Ich höre hier Finesse. Igudesman: Aber dann hat ein Holzfäller auch Finesse. Schließlich muss der auch nur auf die richtigen Stellen hauen. (lautes Lachen) Joo: Das cis-Moll-Prelude symbolisiert ja angeblich so etwas wie Moskauer Kirchenglocken, aber das hier klingt für mich eher nach Debussys La cathédrale engloutie. Die Glocken läuten nicht richtig, der Pianist scheut sich, zu explodieren. Ich mag es, wenn es mit einer Intensität gespielt wird, die deine Lautsprecher beinahe zerbersten lässt. Wobei es manche Pianisten auch übertreiben. Das war ja einer der Gründe für unseren Rachmaninow-Sketch, dass viele bei diesem Stück dermaßen in die Tasten hämmern. Das macht dieser Pianist zum Glück nicht. Aber ich vermisse bei ihm ein bisschen so etwas … Russisches. Igudesman: Siehst du, jetzt sagst du es auch! (beide lachen) Joo: Bernd Glemser? Nein, ich kenne ihn nicht. Igudesman: Also, ich kann diese Aufnahme nicht empfehlen. Und unsere Rachmaninow-Aufnahme kann ich auch nicht empfehlen. (lacht)
Gershwin: It Ain’t Necessarily So/Summertime
Jascha Heifetz (Violine), Brooks Smith (Klavier). Aus: „Selections
from the Heifetz Collection“. RCA 1965/BMG 1994
Igudesman: (nach wenigen Sekunden) Das ist ein typisches Heifetz-Arrangement – und die Geige, das könnte Yehudi Menuhin sein. Es hat diese alte Klangästhetik, eine bestimmte Art von Vibrato und Bogenhaltung, heute würde man es anders spielen. Joo: In jedem Fall hat sich derjenige viel von Heifetz angehört. Dem Arrangement gegenüber ist das sehr treu – doch es hat für mich nicht den Spirit von Gershwin. Igudesman: Ich persönlich bin allergisch, wenn jemand bei Summertime die Passage „and the livin’ is easy“ so freudig hüpfend daherspielt. Dem würde ich sagen: „Hör’ dir wenigstens einmal Jazz an!“ Joo: Selbst Heifetz – der ein großartiger Geiger und Arrangeur war – spielte so ein Stück mit der Überzeugung „ich bin ein russischer, klassisch-geschulter Geiger“. Die punktierten Rhythmen zum Beispiel, die sind eben nicht so punktiert wie in der Klassik. Das braucht mehr Swing! Natürlich kommen viele Techniken, die Gershwin anwendete, aus der Klassik. Aber sein Idiom war Jazz und Broadway, war die populäre Musik seiner Zeit. Deshalb atmen auch Aufnahmen von damals, von Leuten wie Benny Goodman, Louis Armstrong oder Ella Fitzgerald viel mehr den Geist von Gershwin.
Improvisation über Bach: „Jesu bleibet meine Freude“
Gabriela Montero (Klavier)
Aus: „Bach & Beyond“
EMI Classics 2006
Igudesman: Was auch immer das ist – ich muss es haben! Joo: Ja, dieses Klavierspiel ist wundervoll. Punkt. Igudesman: Es ist eine Frau oder ein Mann, ganz sicher. Vielleicht auch ein Zwitterwesen. In jedem Fall ist es göttlich. Komisch, dass wir das noch nicht kennen, denn genau so was hören wir. Joo: Wenn jemand über klassische Musik frei improvisiert, geht es leider oft fürchterlich daneben. Doch hier habe ich das Gefühl, Bach zu hören, es hat die Seele Bachs. Igudesman: Unsere Erfahrung zeigt aber auch, dass es sehr schwierig ist, Bach zu verunstalten. Du kannst Bach auf einer Glasharmonika, Spielzeugtrommel und Piccolo-Flöte spielen, dabei alles auf den Kopf stellen … Joo: … es wird trotzdem noch wunderbar klingen. Igudesman: Gabriela Montero improvisiert ja in ihren Konzerten. Ist es Gabi? – Sie ist eine gute Freundin von uns. Und eine einzigartige Musiker-Persönlichkeit. Ich muss ihr nachher unbedingt eine Nachricht schreiben, wie traumhaft ich das hier finde. Joo: Ja, die Musikwelt braucht Leute wie Gabriela Montero. Sie öffnet die Form, sie kommuniziert. Und mich schockiert, dass viele Veranstalter sie auffordern, nicht zu improvisieren, auch nicht als Zugabe. Dabei liebt das Publikum ihre Improvisationen. Igudesman: Mozart, Beethoven oder Chopin haben damals auch improvisiert und Spaß gehabt. Doch heute, im 21. Jahrhundert gibt es tatsächlich Leute, die sagen: „Nein, keine Improvisation, kein Spaß – wir müssen doch seriöse klassische Musiker sein.“ Das ist so unlogisch!
Bakshi: The Unanswered Call für Violine, Streichorchester & Mobiltelefon
Gidon Kremer (Violine), Kremerata Baltica. Aus: „Kremerland“
Deutsche Grammophon 2004
Igudesman: Gidon! Joo: Ja, unüberhörbar. Igudesman: Und dann ist es die Kremerata Baltica. Joo: Ich kenne das Stück, es war auf so einer Jubiläums-CD. Igudesman: Gidon ist toll, weil er immer auf der Suche nach Neuem ist. Er war auch einer der ersten Musiker, der mit uns arbeiten wollte. Er ist jemand, wo man auf gut Deutsch sagt: „Der hat Eier.“ Er schert sich nicht darum, was andere denken, und wenn eine Sache zu populär wird, lässt er die Finger davon. Er geht immer den schwierigeren, aber auch den interessanteren Weg. Schön, wie bei diesem Stück hier das Handyklingeln in die moderne Musik einfließt. Wir haben bei einem Projekt mit Gidon auch mal Kremerata Klingeltöne geschrieben und die populäre Nokia-Melodie im Stile verschiedener Komponisten arrangiert. Quasi als Service für Leute, die während eines Klassik-Konzerts nicht auf ihr Handy verzichten können. (lacht) Joo: Natürlich ist das Handyklingeln im Konzertsaal eine Unart. Trotzdem gucken wir dann nicht streng ins Publikum, sondern machen lieber musikalisch einen Spaß daraus. Igudesman: Wenn du deinen Gegner nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihm.
Springsteen: Streets of Philadelphia
Quatuor Ebène
Aus: „Fiction“
Virgin Classics 2011
Joo: Ich weiß es. Und ich liebe diese Jungs! Das Quatuor Ebène ist für mich das Beste, was der klassischen Musik passieren konnte, sagen wir seit Glenn Gould. Igudesman: Sie sind einerseits super ausgebildete klassische Musiker, auf der anderen Seite spielen sie auch andere Stile hervorragend. Das hier hat Groove, Gefühl … Joo: Ich hab’ sie mal live mit Beethovens späten Streichquartetten gehört. Nun, eigentlich sind sie ja fast noch Kinder, doch sie spielen Beethoven, als wären sie so erwachsen wie das Amadeus Quartett. Und dann singen sie noch a capella wie die King’s Singers. Wirklich exzellent! Igudesman: Weißt du, was mir an diesem Interview gefällt? Nicht, dass die Leute lesen, was wir so alles erzählen, sondern dass sie diese Aufnahmen sehen – und sie sich vielleicht auch anhören und kaufen.
Was man bei Igudesman & Joo live erleben kann, sehen concerti.de-Leser exklusiv hier: