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Blind gehört Cédric Tiberghien

„Diese Variation frisst dich von innen auf“

Pianist Cédric Tiberghien hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonHelge Birkelbach,

Französisches Repertoire habe er am Anfang seiner Karriere gemieden, sagt Cédric Tiberghien. Um nicht den typischen Stempel aufgedrückt zu bekommen: Französischer Pianist spielt französische Musik. Nun hat er aber genau das getan und sein aktuelles Album hat er Maurice Ravel gewidmet. Aber seinen Brahms und seinen Beethoven liebt er immer noch und kennt deren Werke bis ins Detail. Mit diesem Wissen nähert er sich der Tastenwelt ihm persönlich bekannter wie auch verstorbener Pianisten – und ist von einem ganz jungen Kollegen äußerst überrascht.

Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 3 – 1. Allegro ma non tanto

Vladimir Ashkenazy (Klavier), London Symphony Orchestra, André Previn (Leitung)
Decca 1995 (Aufnahme 1971)

Eine phantastische Eröffnung, vor allem deshalb, weil sich das Klavier nicht zu sehr in den Vordergrund drängt. Sehr schön, wie der Solist eine Verbindung mit dem Orchester eingeht und sich der Klang mischt. Das gefällt mir sehr gut. Nicht zu laut, dennoch expressiv. Vor allem im zweiten Abschnitt, wenn das Thema abgeschlossen ist. Ich weiß nicht, ob es die Entscheidung des Dirigenten war oder die des Solisten, oder gar des Tonmeisters, aber der Mix ist perfekt. Nach meinem Geschmack ist das Tempo jedoch recht langsam. Ich mag es, wenn es wie hier an den richtigen Stellen leicht langsam wird, aber nicht zu sehr … Ich glaube nicht, dass ich diese Aufnahme kenne. Nikolai Lugansky ist zum Beispiel ein herausragender Rachmaninow-Interpret, ich schätze seine Interpretationen sehr. Aber er ist es nicht – Die Aufnahme ist von 1971? (atmet tief durch) Mit dem London Symphony Orchestra? Oh, dann kenne ich die Aufnahme doch, Vladimir Ashkenazy ist der Solist! Hätte ich eigentlich erkennen können. Das war eine der ersten Alben, die ich von Rachmaninow besaß. Dann kam die Liveaufnahme mit Evgeny Kissin mit dem Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa, die ich sehr mag. Ashkenazy hat eine sehr gute Vorstellung von dem Werk, weil es sich sehr nahe an der sinfonischen Arbeit Rachmaninows bewegt.

Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1 – 3. Allegro con fuoco

Alice Sara Ott (Klavier), Münchner Philharmoniker, Thomas Hengelbrock (Leitung)
Deutsche Grammophon 2010

Oh, schön! Das 1. Klavierkonzert von Tschaikowsky, letzter Satz. Das spiele ich nicht so oft wie Rachmaninow. Erneut: Ich mag das Orchester. Das Klavier ist ein bisschen zu sehr geradeaus. Ich würde etwas mehr Agogik erwarten. Das Thema hat viele Akzente, Offbeats, so wie bei Bartók. Es könnte mehr Swing gebrauchen, mehr freies Spiel mit dem Rhythmus. Schön gespielt, aber nicht unbedingt mein Ding. Meine Referenzaufnahme ist die mit Swjatoslaw Richter und Herbert von Karajan mit den Wiener Symphonikern von 1962. Eine Offenbarung! Aber das hier ist viel später aufgenommen worden. – 2010? Alice Sara Ott? Eine tolle Musikerin, ein sehr netter Mensch. Leider hatten wir noch nicht die Möglichkeit, zusammen zu arbeiten, auf welche Weise auch immer.

Beethoven: Klavierkonzert Nr. 1 – 3. Rondo: Allegro

Pierre-Laurent Aimard (Klavier), Chamber Orchestra of Europe, Nikolaus Harnoncourt (Leitung)
Teldec 2003

Tolles Orchester, großartig! Ich mag den Gesamteindruck, den Charakter, die Durchsichtigkeit. Das Tempo ist ziemlich schnell. Aber nicht schnell als Selbstzweck, sondern spielerisch, vergnügt. Der Solist spielt dagegen sehr, wie soll ich sagen, intellektuell. Das sind irgendwie zwei verschiedene Welten. Das Orchester hat bestimmt einen Hintergrund im Barock, in historisch informierter Spielweise. Richtig, oder? Dann ist es Nikolaus Harnoncourt! Und der Solist ist Pierre-Laurent Aimard, klar. Leider kenne ich Aimards Arbeit außerhalb des Repertoires des 20. Jahrhunderts wenig. Bei Beethoven klingt sein intellektueller Ansatz ein wenig zu ernst.

Beethoven: Diabelli-Variationen op. 120 – Variation 24: Fughetta. Andante

Maurizio Pollini (Klavier)
Deutsche Grammophon 2000

(wiegt seinen Kopf beim Zuhören) Ah, das ist so bewegend! Ich habe die „Diabelli-Variationen“ während der Pandemie intensiv studiert. Das ist die Variation Nr. 24, nicht wahr? Diese Variation frisst dich von innen auf. Das Werk bietet so unglaublich viele Möglichkeiten, dass du einen extrem persönlichen Ansatz finden musst, um damit zurechtzukommen. Deshalb ist es auch so interessant, verschiedene Versionen dieses großartigen Stücks zu hören. Diese hier mag ich. Nicht zu viel Kontrolle, das Tempo ist leicht flexibel gewählt. Die Interpretation ist nach meinem Geschmack etwas zu vertikal angelegt, dennoch sehr schön. Vor allem die Polyfonie ist gut gestaltet, ohne zu offensichtlich zu werden. Schwer zu sagen, wer das spielt. – Ein Italiener? Dann würde ich auf Arturo Benedetti Michelangeli tippen. – Nein? Oh, Maurizio Pollini! Das überrascht mich jetzt nicht. Wir haben ein vollkommen falsches Bild von ihm. Man denkt immer, er sei ein Felsen, massiv und groß. Besonders in Konzerten kann er jedoch ganz anders sein. Stark, dennoch verletzlich, fast fragil. Ich habe Pollini in den späten Neunzigern live in Paris erlebt. Da habe ich diese andere Seite von ihm gehört. Insofern: sehr schöne Aufnahme.

Brahms: Intermezzo op. 117 Nr. 2

Artur Rubinstein (Klavier)
BMG 1987 (Aufnahme 1970)

Da muss ich sofort an Wilhelm Kempf denken. Mit seinen Aufnahmen bin ich aufgewachsen. Bei dieser Aufnahme hier gibt es etwas, was nicht wirklich funktioniert. Das Pedal ist vorsichtig eingesetzt, sehr trocken. Das Ganze ist mir etwas zu sentimental. Ich wünschte mir mehr Freiheit, gleichzeitig mehr Einfachheit. Es klingt nach einer recht alten Aufnahme. Nicht nur von der Akustik her, sondern auch von der Interpretation. So spielt man den Brahms heute eigentlich nicht mehr. – Rubinstein? (lacht) Ich liebe Rubinstein! Ich mag vor allem seine Aufnahmen der Brahms-Klavierkonzerte. Das Intermezzo spielt er zärtlich, aber er wahrt einen gewissen Abstand. Das ist es, was mich zu der Aussage bringt, dass etwas nicht funktioniert.

Mendelssohn: Klaviertrio Nr. 1 op. 49 – 1. Molto allegro ed agitato

Menahem Pressler (Klavier)/Beaux Arts Trio
Warner 2004

Unwiderstehlich, der Mendelssohn! Ich habe dieses Stück noch nie gespielt, würde das aber gerne nachholen. Für mich stellt Mendelssohn eine Verbindung zur Vergangenheit dar. Man sollte ihn in der Art spielen, wie man Mozart oder sogar Haydn spielt. Mit Leichtigkeit, mit Licht. Diese Aufnahme hier ist ein bisschen old-fashioned, viel Vibrato, nicht so viel Artikulation. Der Klang ist wundervoll, die Balance phantastisch, aber ich würde es schneller spielen. Vielleicht mit historischen Instrumenten, um Mendelssohn näher an Mozart zu rücken, wie ich eben sagte. – Der Pianist war schon zum Zeitpunkt der Aufnahme recht alt? Und seine Mitstreiter sind jünger, der Violinist sogar wesentlich jünger? Der Hinweis ist hilfreich. Aber ich komme partout nicht drauf … Das Beaux Arts Trio? Ah, dann ist es Menahem Pressler. Ein ungewöhnliches Experiment, dieser Altersmix mit Antonio Meneses und Daniel Hope. Es ist schon erstaunlich, dass Menahem Pressler so lange brauchte, bis jeder realisierte, was für ein herausragender Musiker er ist. Wie alt ist er jetzt? 98 Jahre? Wahnsinn!

Prokofjew: Klaviersonate Nr. 7 op. 83 – 3. Precipitato

Martha Argerich (Klavier)
EMI 2004 (Aufnahme 1979)

Oh yeah!! Prokofjew. (hört konzentriert zu) Mein erster Reflex war: Verdammt, ist das schnell! Precipitato bedeutet nicht unbedingt, dass es schnell sein muss. Es muss nervös sein, innerlich unruhig, das stimmt. Die Schwierigkeit bei diesem Satz ist, dass du vorher genau wissen musst, wie das Gebäude aussehen soll. Du kannst es lauter und lauter werden lassen, aber das wäre zu simpel. Ich erinnere mich, dass es eine Aufnahme von Grigory Sokolov gibt, aber die ist wesentlich langsamer. Und trotzdem hat seine Interpretation jede Menge Kraft. Die Geschwindigkeit hier geht auf Kosten der Aufmerksamkeit, was schade ist. Natürlich ist das Spiel ziemlich eindrucksvoll. Einige Noten poppen auf, als ob sie von einem anderen Instrument gespielt würden. Ich schätze, das ist eine Liveaufnahme. Ja? Das hört man, diese Spannung, diese Nervosität. Ich spüre das. Man merkt auch, wie sich diese Energie auf die Zuhörer überträgt. Als Live-Performance wirklich erstaunlich. – Es ist Martha Argerich? Sie ist dafür bekannt, richtig zuzupacken und schnell zu spielen. Manchmal funktioniert das, manchmal nicht. Ich würde es anders machen.

Ravel: Klavierkonzert G-Dur – 3. Presto

Cédric Tiberghien (Klavier), Les Siècles, François-Xavier Roth (Leitung)
harmonia mundi 2022

Ich höre eigentlich wenige Aufnahmen. Vor allem dann nicht, wenn ich mich in ein neues Stück einarbeite. Die Beschäftigung mit den Interpretationen anderer Musiker würde mich vom Weg abbringen, also wie ich ein Stück sehe und welchen Zugang ich wähle. Ich kann scheitern, aber das ist völlig in Ordnung. Besser als kopieren. Beim G-Dur-Konzert weiß ich, was das für eine Aufnahme ist: meine eigene! Mit dem wunderbaren François-Xavier Roth, der einfach genau weiß, wie sein Orchester zusammen mit dem Solisten eine Einheit bilden kann. Er ist ein wirklich fabelhafter Dirigent, hat so viel positive Energie und lässt gleichzeitig viele Freiheiten zu. Er kennt seine Musiker sehr gut, und sie vertrauen ihm. Die Aufnahmen haben wir in der Philharmonie de Paris gemacht. Wie immer hatten wir wenig Zeit, das kennt man. Ich war natürlich auch beim Editing dabei, aber die fertige Aufnahme habe ich tatsächlich noch nicht gehört.

Cage: In a Landscape

Alexei Lubimov (Klavier)
ECM 2002

Wunderschön! Ich könnte ewig zuhören. „In a Landscape“ spiele ich gerne linear, um das Tempo zu vergessen. Du vergisst die Zeit, begibst dich so in eine Art von Trance. Diese Aufnahme hier ist sehr frei, sie hat Bewegung, bleibt aber sehr subtil. Wie ein Vorhang, der sich sachte im Wind bewegt. Ich weiß nicht, wer das spielt, aber ich mag das sehr! Und es einen tollen Sound. Auf ECM erschienen? Kein Wunder. Die Klangkultur, die auf diesem Label gepflegt wird, ist herausragend. Da stimmt wirklich alles. Tord Gustavsen, ein norwegischer Jazz-Pianist, den ich sehr schätze, veröffentlicht seine Musik auf ECM. Wer spielt hier? – Alexei Lubimov? Ich mag sehr, was er macht. Diese Aufnahme würde ich mir sogar kaufen. Very nice.

J.S. Bach: Concerto italien BWV 971 – 1. Allegro

Alexandre Tharaud (Klavier)
harmonia mundi 2005

Äh ja … Mit dem „Italienischen Konzert“ habe ich ein Problem (lacht). Ich weiß nicht warum, denn es ist ein absolutes Meisterwerk, aber verstanden habe ich es nie. Ich habe es oft zu Hause gespielt, aber noch nie im Konzert. Die Eröffnung, wie wir sie hier hören, hat zu wenig Freude. Man muss mitsingen können, aber das kann ich hier nicht. Ja, es hat schöne Triller, aber ich finde es, Entschuldigung, ein bisschen langweilig. Es ist bestimmt ein guter Pianist, aber wie gesagt: langweilig. Wen hören wir? – Alexandre Tharaud? Oh mein Gott, sorry, Alexandre! Ich kenne ihn natürlich, er ist ein phantastischer Musiker. Und ich erinnere mich jetzt an dieses Album, es war sehr erfolgreich.

Liszt: St. François d’Assise – La prédication aux oiseaux

Arcadi Volodos (Klavier)
Sony 2007

Wow! Wohin schwebt er? Ich kenne diesen Pianisten. Speziell im Liszt-Repertoire ist er superb. Er erinnert mich irgendwie an Alfred Brendel, der genauso frei, schwerelos und leuchtend Liszt spielt. Arcadi Volodos? Ich mag sehr, was er macht. Die Triller, die Volodos hier spielt, sind spektakulär. Dennoch geht es nicht um die Technik, um die Präsentation perfekter Spielkunst. Genau das ist die Falle, in die viele tappen, wenn sie Liszt spielen. Volodos kümmert das nicht, er kann es einfach und schwebt darüber hinweg. Es hört sich alles ganz leicht an, und das ist es auch. Alles fließt, ganz natürlich.

Messiaen: Huit Préludes – 8. Un reflet dans le vent

Roger Muraro (Klavier)
Accord 2001

(summt mit) Messiaen spiele ich oft und leidenschaftlich gerne. Was ich hier sofort höre: Der Pianist kennt sich mit der Musik Messiaens aus, er spielt wirklich gut. Aber ich suche nach dem Wort, um zu beschreiben, was mich ein wenig irritiert. Nicht harsch, nicht ruppig. Ich weiß nicht. Es verwirrt mich umso mehr, als dass ich denke, dass dieser Pianist ganz nah dran ist, aber eben nicht nah genug. – Ah, er studierte bei Yvonne Loriod? Da haben wir die direkte Verbindung zum Komponisten. Loriod war mit Messiaen verheiratet und hat eine Fülle von Aufnahmen seiner Werke realisiert. Wer studierte bei Loriod? Pierre-Laurent Aimard zum Beispiel. Aber den hatten wir ja eben schon. Roger Muraro? Ich habe einige wunderbare Aufnahmen für Klavier und Orchester von ihm gehört. Aber diese Einspielung der Préludes kenne ich nicht.

Skrjabin: Klaviersonate Nr. 9 op. 68 „Black Mass“

Vladimir Horowitz (Klavier)
Sony 2003 (Aufnahme 1965)

Wundervoll. Vielleicht ein bisschen lauter, bitte … Ah! Vergangene Woche noch habe ich die Partitur studiert. In der nächsten Spielzeit wird die Sonate definitiv auf meinem Programm stehen. Dies ist eine herausragende Interpretation. Eine Liveaufnahme, sehr lebendig. Es flattert etwas, es ist keineswegs rein und sauber. – 1965 aufgenommen? Wer könnte das sein? Auf jeden Fall alte Schule. Horowitz! Ein Mann mit Feuer! Eine enorme Kapazität, die er da ausschöpft. Wie bei einem Auto der Extraklasse, das man ganz gemütlich und langsam anrollen lässt – und dann plötzlich (klatscht in die Hände) donnert es los! Horowitz lässt es grummeln, er wiegt dich in Sicherheit. Und dann überrascht er dich. Ich bin ein großer Fan von ihm.

Tcherepnin: Eight Pieces for Piano op. 88 – 3. Reverie

Alexander Gadjiev (Klavier)
Avi 2022

Ein erfahrener Pianist. Er spielt sehr orchestral. Das hört sich fast wie eine Transkription an, diese Fülle. Leider kenne ich das Stück nicht. Aber der Pianist kennt das Stück definitiv sehr gut. Er gräbt sich tief hinein, fast wie mit den Händen, sehr physisch. Also nicht sophisticated. Die Klangpalette ist schier unglaublich: Sie reicht von ganz soft zu superbrillant, ohne dabei scharf zu klingen. Großartig. – Er ist erst 27 Jahre alt? Unfassbar! – Alexander Gadjiev, ich habe von ihm gehört. Er hat schon einige namhafte Preise gewonnen. Als ich so jung war, konnte ich auch einige Wettbewerbe gewinnen. Sie markierten sozusagen das Ende des Vorbereitungsprozesses. Danach folgten sehr viele Auftritte, also die unmittelbare Erfahrung an ganz verschiedenen Orten und viel Praxis. Und ich habe mein Repertoire kontinuierlich erweitert. Dabei habe ich genau darauf geachtet, zunächst nicht auf französische Komponisten zu setzen. Auf meinem Programm standen Bach, Beethoven, Schönberg. Ich wollte nicht dieses typische Etikett verpasst bekommen: Französischer Pianist spielt französisches Repertoire. Das war ganz klar nicht meine Position. Und das hat mich befreit.


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