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Blind gehört Alondra de la Parra

„Oh, hier läuft aber einiges schief!“

Die Dirigentin Alondra de la Parra hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass sie weiß, wer spielt.

vonJakob Buhre,

Während Alondra de la Parra im Büro ihrer Berliner Agentur konzentriert den verschiedenen Einspielungen lauscht, dirigiert und singt sie häufig mit, schaut ungläubig, sobald sie mit einem Tempo oder einer Phrasierung unzufrieden ist. An ihren Anmerkungen wird deutlich, dass die mexikanische Dirigentin den Notentext des jeweiligen Werks stets sehr genau vor Augen hat.

Tschaikowsky: Violinkonzert

David Garrett (Violine), Russian National Orchestra, Michail Pletnev (Leitung)
Deutsch Grammophon 2001

Der Solist hier spielt sehr sauber und pur, vielleicht ist es Maxim Vengerov? Das Konzert ist schwierig zu dirigieren, vor allem wenn es um das Zusammenspiel mit dem Solisten geht. Du musst sehr genau im Rhythmus sein, ständig auf seinen Bogen gucken. Das Orchester könnte russisch sein, das Spiel ist sehr vorwärtstreibend, es geht ständig voran. Bei Tschaikowsky passiert es leicht, dass man sich in der Schönheit einer Phrase verliert, ein Ritardando macht, wo gar keines steht. Hier gelingt das gut, die Musik bewegt sich immer weiter. – Ah, das Russische National Orchester und David Garrett? Ich habe mit beiden schon zusammengearbeitet. Leider wird David von Kritikern oft unterschätzt und falsch beurteilt. Diese Aufnahme finde ich beeindruckend.

Brahms: Sinfonie Nr. 3 F-Dur

London Philharmonic Orchestra, Marin Alsop (Leitung)
Naxos 2007

Das ist Brahms’ Dritte, sehr gefühlvoll dirigiert, wunderschön gespielt … Vielleicht Simon Rattle? Die Streicher-Sektion ist sehr groß, mein persönlicher Ansatz ist etwas mehr kammermusikalisch. Zur Zeit von Brahms waren es weniger Streicher im Orchester, hier ist das ein sehr üppiger, prachtvoller Klang. Dadurch gehen aber manche Details verloren, die Rhythmen und verzwickten Wendungen verlangen Agilität und Wendigkeit und die kleineren Instrumentengruppen, die zweiten Geigen, Bratschen, Klarinetten oder Fagott müssen zur Geltung kommen. Wenn ich dirigiere sind es, je nach Akustik, zehn bis vierzehn erste Geigen, hier höre ich mindestens sechzehn. – Das ist Marin Alsop? Ihre Brahms-Aufnahmen gehören für mich zu den besten. In vielen Dingen stimme ich mit ihr überein. Vor allem ihre Präzision bei Tempo und Rhythmus gefällt mir hier gut. Können wir den dritten Satz hören? Hier (singt das Eingangsthema), diese Passage habe ich vor etwa zwanzig Jahren bei einem Festival mit Marin studiert. Sie hat mir gezeigt, wie ich diese Melodie so dirigiere, dass das Ende der Phrase gleichzeitig der Beginn der nächsten Phrase ist. Das war für mich eine wichtige Lehrstunde.

Brahms: Sinfonie Nr. 3 F-Dur

Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (Leitung)
Deutsche Grammophon 1965

Diese Aufnahme ist sehr expressiv und emotional, aber in der Phrasierung weniger sorgfältig. Dabei gibt Brahms in der Partitur tatsächlich sehr viele Anweisungen. Ein satter Klang, viel Legato, romantisch. Aber hier zum Beispiel ist das Orchester schon mezzoforte, wo Brahms eigentlich mezza voce notiert. Und alles ist miteinander verbunden, die Phrasen haben kein Ende, es gibt wenig Innehalten. Das könnte Bernstein sein. Oder vielleicht Karajan? – Ich bin mit Aufnahmen von Karajan, Toscanini, Bernstein und Kleiber aufgewachsen, sie klingen grandios, alles glänzt. Aber als ich später selbst die Brahms-Noten in der Hand hatte, war ich überrascht. Weil ich in der Partitur etwas anderes lese: nicht nur den jungen Romantiker, sondern auch den späten Klassik-Vertreter, das Kammermusikalische, die raffinierte Kompositionsweise, die verwobenen Linien, Gegenbewegungen, die klassische Struktur. Und ich stelle ihn mir als sehr sensible Person vor: eher introvertiert, gläubig, verbunden zur Natur. Er selbst hätte sich vermutlich nicht so auf den Sockel gestellt, wie es viele Dirigenten tun, die ihn sehr bombastisch und triumphal dirigieren.

Chavez: Sinfonie Nr. 2 „Sinfonía india“

London Symphony Orchestra, Eduardo Mata (Leitung)
Moss Music 1983

Bei dieser Sinfonie hat man häufig das Problem, dass Orchester nicht über die prä-hispanischen, mexikanischen Percussion-Instrumente verfügen und sie daher mit herkömmlichen ersetzen. Vorgesehen ist zum Beispiel das Grijutian, eine aus Hirschhufen gefertigte Rassel, die Schlitztrommel Teponaztli oder ein aus Schmetterling-Kokons gefertigter Schellen-Ring. Wer spielt hier? – Aha, Eduardo Mata war einer der wichtigsten Dirigenten in Mexiko, aber das LSO stammt eben nicht aus diesem Kulturraum. Die langsamen Passagen gefallen mir gut, aber der Pauken-Klang ist mir zu massiv, er müsste viel trockener sein. In der Partitur stehen auch viele Wechsel in der Dynamik, die höre ich hier kaum, wahrscheinlich weil die Musiker zu sehr mit den komplizierten Rhythmen beschäftigt sind. Für eine erste Probe klingt das ganz gut, aber bei einer Aufnahme würde ich mir mehr Präzision wünschen – und dass das Ensemble versucht, dem Originalklang so nah wie möglich zu kommen.

Márquez: Danzón No. 2

Singapore Symphony Orchestra, Lan Shui (Leitung)
BIS 2004

Oh, hier läuft aber einiges schief. Der Anfang ist viel zu schnell, der zweite Teil zu langsam. Danzón ist ein in Mexiko beliebter Tanz, der aber ursprünglich aus Kuba kommt, wo er früher vor allem in aristokratischen Kreisen getanzt wurde. Die Damen trugen edle Gewänder und Hüte, und um nicht zu sehr ins Schwitzen zu kommen, waren die Bewegungen sehr sparsam und subtil. Es ist ein demütiger Tanz, diese Aufnahme klingt mir dagegen zu bombastisch, die Pauken sind leider übertrieben laut, da fehlt die Eleganz. Und dort, wo der sogenannte „Montuno“ beginnt, der traditionell viel schnellere Schluss-Teil, wird das Orchester auf einmal langsamer, das passt nicht. Ich habe dieses Stück schon oft dirigiert, vermutlich um die dreihundert Mal, deswegen habe ich eine sehr genaue Vorstellung davon, wie es klingen muss.

Richter/Vivaldi: Vivaldi Recomposed

Daniel Hope (Violine), Konzerthaus Kammerorchester, André de Ridder (Leitung)
Deutsche Grammophon 2012

Das kenne ich natürlich. Wunderbar gespielt … Oh, aber was ist das? Ist das vielleicht ein Experiment von Teodor Currentzis? Die „Vier Jahreszeiten“ mit geänderten Noten – interessant, aber ich brauche so etwas nicht. Das Original ist doch wunderschön, es braucht keine Nachbearbeitung, da bin ich Puristin. Gut, wenn ein Komponist seine Einwilligung gibt, in Ordnung. Aber Vivaldi lebt nicht mehr, er kann darauf nicht mehr reagieren. Nein, für mich ist das so, als würde man da Vincis Mona Lisa umarbeiten, weil man meint, sie brauche eine neue Frisur. Ich habe nichts dagegen, wenn Musik in einen neuen Kontext gestellt wird, wenn jemand die „Vier Jahreszeiten“ als Punk oder Jazz aufführt oder ein Schubert-Lied mit einer Pop-Band spielt. Aber hier wurden die Noten, die Harmonien verändert, damit kann ich mich nicht anfreunden.

Kersten: Romantic Symphony

Vienna Symphonic Library (computersimuliertes Orchester)
Bandcamp 2021

Album-Tipp:

Album Cover für Braunstein: Abbey Road Concerto u. a.

Braunstein: Abbey Road Concerto u. a.

Guy Braunstein (Violine), Orchestre Philharmonique Royal de Liège, Alondra de la Parra (Leitung) Alpha

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