Woher nehmen Sie Ihre Ideen bei neuen Kompositionen? Haben Sie einen festen Plan?
Brigitta Muntendorf: Das ist sehr unterschiedlich. Gerade bei meinen Musiktheater-Projekten gibt es bestimmte thematische Linien die ich verfolge. Was mich dabei immer interessiert, ist die Schnittstelle von Technologie und gesellschaftlichen Fragen. Technosoziale Fragen sozusagen. Wie kommunizieren wir miteinander? Wie gehen wir mit neuen technischen Errungenschaften um? Wann richten sie sich gegen uns und wann können wir sie auch wirklich so nutzen, dass sie uns miteinander weiterbringen? Das sind Themen, die mich immer wieder umtreiben, auch in „Melencolia“. Oftmals ergeben sich daraus konkrete Situationen, die Klänge hervorbringen oder es sind spezifische Techonolgien, die mich inspirieren. Zurzeit beschäftigt mich sehr das Thema Immersion. Wie kann man ausgehend von einem immersiven Moment neue Narrative finden und wie kann das Publikum einen aktiveren Part im Werk spielen?
Steht bei dieser Art Komponierens überhaupt noch die Musik im Mittelpunkt?
Muntendorf: Für mich ist die Musik immer ein Schlüsselmoment. Meine Arbeit liegt nach wie vor in erster Linie darin, Dinge in eine musikalische Sprache und Form zu übersetzen. Wie kann ich den Kopfstoß von Zinédine Zidane musikalisch fassen? Dieser Frage musste ich mich zum Beispiel bei „Melencolia“ stellen. Diese Art von Herausforderung liebe ich einfach, gerade weil ich anfangs keine Antwort habe und nach Wegen suchen muss. Das Ergebnis ist somit auch für mich immer unerwartet, überraschend.
Wie sehen Sie Ihre Rolle als Komponistin in der heutigen Gesellschaft?
Muntendorf: Für mich hat Kunst eine klare sozialpolitische Dimension. Musik kann Menschen auf eine ganz besondere Weise zusammenbringen und das gemeinsame Hören, das „Radical Listening“ kann zu einem politischen Akt werden, der uns als Gemeinschaft einen Schritt voranbringt. Ich würde fast meinen, dass in unserer zunehmend verstörenden Gegenwart jedes Zuhören, jedes radikale Verorten beim Anderen, ein politischer Akt sein kann. Um das aber überhaupt erfahrbar zu machen, braucht es Settings und Kontextualisierungen, die das vermitteln können und hier sehe ich meine künstlerische Aufgabe. Meine Arbeit liegt immer an einer Schnittstelle zwischen Musik, Gesellschaft und Reflexion. Musik hat die Kraft, Räume für Themen, aber auch Räume in uns selbst zu öffnen – und das mit einer berührenden Offenheit, unmittelbar, direkt.

Wie nehmen Sie das heutige Publikum wahr? Viele zeigen sich bei Neuer Musik ja immer noch zurückhaltend.
Muntendorf: Nun, es gibt solche und solche Neue Musik. Bei dem Versuch, 120 Jahre Musikgeschichte in einem Begriff zu sammeln wäre ich auch zurückhaltend. Ich selbst wurde als Jugendliche aus der Hamburger Laeiszhalle rausgeschmissen, weil ich bei einem Ligeti-Stück einen Lachkrampf gekriegt habe. Neue Musik erfordert eine andere Art des Zuhörens, weil sie nicht den gewohnten Mustern folgt, die wir mit Musik verbinden. Es geht oft um ästhethische, forschende oder politische Dimensionen, die nicht selbstverständlich sind und daher vermittelt werden müssen. „Melencolia“ beispielsweise ist in dieser Hinsicht besonders zugänglich, da es sich musikalisch „post-Genre“ verhält und sich einer musikalischen Hyperkultur von Neue Musik bis zum Kitsch verschreibt, gleichzeitig diese Ausdrucksformen künstlerisch nutzt. Die Herausforderung seitens des Publikums liegt eher darin, sich auf das Erlebnis einzulassen und loszulassen. Insgesamt braucht es aber weiterhin eine Annäherung von beiden Seiten, das klassische Publikum könnte mutiger sein, und die Neue Musik sollte weiter daran arbeiten, aus ihrer Nische herauszutreten.
In diesem Jahr übernehmen Sie die Intendanz der Kunstfestspiele Herrenhausen. Haben Sie schon Visionen?
Muntendorf: Was ich schon mal verraten kann ist, dass ich auch hier diese Schnittstelle von Kunst, Technologie und Gesellschaft noch stärker sicht- und hörbar machen möchte. Die Frage nach dem digitalen Wandel und was er für den Menschen und seine Lebensräume bedeutet, wird eine Rolle spielen. Zudem interessieren mich die Schnittstellen zwischen Kunst- und Clubkultur und entsprechend auch die Menschen und verschiedenen Kulturen, die damit einhergehen. Dieser Ort – die Herrenhäuser Gärten – vereint historische Schönheit, aber auch lebendigen Diskurs und schafft so ideale Rahmenbedingungen dafür.