„Grüß Gott, was wollen’s denn von mir wissen?“ Georg Nigl hat noch gar nicht richtig Platz genommen und möchte gleich mit dem Interview loslegen. Nicht, weil er keine Zeit hätte. Sondern weil er viel zu sagen hat, und das in aller Regel druckreif und mit vielen Denkpausen. Vorgeplänkel ist eben nicht Nigls Sache.
Herr Nigl, einerseits genossen Sie als Wiener Sängerknabe eine denkbar traditionelle Ausbildung, andererseits brachen Sie Ihr Studium ab, weil Ihnen das zu schulisch war. Wie kam’s zu diesem Sinneswandel?
Georg Nigl: Es gibt einige Stationen in meinem Leben, die diese Veränderung erklären können. Dazu gehört sicherlich meine Schulausbildung, in der die Alt-68er unsere Lehrer waren und ich stark politisiert wurde. Dann habe ich auch Pier Paolo Pasolini und seine Freibeuterschriften für mich entdeckt. Dieser nonkonformistische Zugang zu seinem Leben hat mich damals schwer beeindruckt. Außerdem wurde mir bereits in meiner Zeit als Wiener Sängerknabe klar, dass es hier nicht um mich als Person ging, sondern um den Chor selbst. Das war wichtig, denn es passiert ja oft, dass die Grenzen zwischen dem Ich und der Institution verschwimmen.
Wie meinen Sie das?
Nigl: Es gab da zum Beispiel ein prägendes Erlebnis, als ich in einer ORF-Sendung gesehen habe, wie ein Lipizaner eine Stute decken sollte. Drumherum standen einige Champagner trinkende Gäste und das TV-Team mit seinen laufenden Kameras und seinen Scheinwerfern. Doch anstatt seinen biologischen Notwendigkeiten nachzukommen fängt das Pferd plötzlich an zu tänzeln, wie es das arme Tier halt gewohnt ist, wenn Leute um es herumstehen. Das hat mich sehr berührt. Und dann habe ich mich selbst gefragt: Was ist eigentlich als Sängerknabe der Anteil von mir, wenn das Licht angeht und ich dann auf Knopfdruck funktionierte?
Muss man das denn nicht auf der Bühne?
Nigl: Natürlich, aber so meine ich das nicht. Es geht um die Rollen, die einem als Künstler übergestülpt werden. In unserem Metier herrscht noch immer die Stupidität, dass alle immer nur über Stimmen reden. Und seit einigen Jahren haben wir jetzt auch noch die intellektuellen Sänger. Aber was ist ein intellektueller Sänger? Also, sind wir jetzt Künstler oder was sind wir?
Klingt so, als hätten Sie lange und intensiv künstlerische Selbstfindung betrieben.
Nigl: Natürlich, allein schon von meiner Lehrtätigkeit her! Wenn Sie unterrichten und Studenten zu Künstlern machen müssen, dann überlegen Sie sich automatisch, was eigentlich ein Künstler ist – und wie ich selbst das damals gemacht habe. Da bin ich draufgekommen, dass ich eigentlich immer gefragt habe. Dadurch entsteht automatisch ein Prozess des Denkens – und da sind wir jetzt beim Schulischen: Wenn wir das selbstständige Denken verbieten, dann entsteht eben das, was uns in der Welt hauptsächlich umgibt: Konformismus. Und dagegen setze ich mich zur Wehr.
Und wie?
Nigl: Oft behaupten zum Beispiel Leute, dass ich weniger singe und vielmehr schreie. Aber das stimmt so nicht, denn am Ende geht’s um den künstlerischen Ausdruck, unabhängig von irgendwelchen künstlerischen Normen. Ich will mich nicht mein Leben lang an einem Dieskau oder einem Wunderlich aufreiben. Sicher, es gibt Stimmen, die uns einfach glücklich machen. Aber es war nie mein Ziel, primär eine Stimme zu entwickeln, die andere glücklich macht. Dafür ist mir der Inhalt dessen, was ich ausdrücken möchte, zu wichtig.
Wenn man Sie so reden hört, machen Sie einen sehr grüblerischen Eindruck.
Nigl: Ja gut, aber womit haben wir es da zu tun? Wir haben es als Sänger mit Tod und Teufel und noch viel mehr zu tun. Ich kann das alles natürlich singen wie ein Telefonbuch, aber das ist halt nicht meine Art.
Das wiederum klingt so, als wollten Sie sich nicht allzu sehr auf Ihre Intuition verlassen.
Nigl: Moment! Natürlich bin ich auch einer, der intuitiv singt. Ich stehe jetzt nicht auf der Bühne und mache mir Gedanken über jedes Komma. Diese Arbeit findet vorher statt, aber auf der Bühne lasse mich natürlich sehr wohl auf das Publikum ein und auf die jeweilige Situation, das ist meine Künstlerschaft. Und ich sage Ihnen was: Genau das ist das Geilste an meinem Job!
Hatten Sie am Anfang Ihrer Karriere Vorlieben zwischen Oper und Lied?
Nigl: Ich habe immer schon wahnsinnig gerne gespielt, das war auch schon bei den Sängerknaben so. Ich bin auch heute noch, glaube ich, vielmehr ein Schauspieler, der singt, als ein Sänger, der spielt. Außerdem bin ich durch meine Chorzeit ein richtiges Ensemblekind geworden.
Und trotzdem singen Sie nirgends als festangestelltes Ensemblemitglied.
Nigl: Das hat eher mit unserer Zeit zu tun.
Inwiefern?
Nigl: Wissen Sie, ich habe mal die Hilde Zadek …
… Ihre frühere Gesangsprofessorin …
Nigl: … gefragt, was eigentlich das Besondere war am Ensemble nach dem Krieg im Theater an der Wien. Da hat sie gesagt: Wir haben miteinander geprobt. Miteinander! Oper ist eine Gemeinschaftsarbeit. Derzeit allerdings dreht sich alles nur ums Ich. Wir wollen unsere Stars, die über alles herrschen und strahlen, und das interessiert mich nicht. Außerdem arbeitest du als Ensemblemitglied erst einmal zu einem Gehalt, wo du nebenher noch als Pizzakoch oder was auch immer arbeiten musst.
Kürzlich habe ich den Vertrag von einem meiner Studenten gesehen – das ist ja knapp über Hartz IV! Nach einer Ausbildung von über sieben Jahren! Da will ich nicht mitmachen. Glücklicherweise habe ich offensichtlich rechtzeitig damit angefangen, mir eine Nische zu erarbeiten. Zugegebenermaßen habe ich mir die nicht bewusst erarbeitet. Ich habe zwar gewusst, was ich will, aber nicht, wo ich hin will.
Wie sieht denn für Sie der ideale Opernbetrieb aus?
Nigl: Das Ideal einer Oper? Puh! Sie haben Recht, man ist immer so schnell auf der kritischen Schiene unterwegs, aber was will man eigentlich wirklich? Im besten Falle kommt es an einer Oper zu glücklichen Konstellationen, in denen ein ganzes Gewebe gemeinsam und miteinander arbeitet und es eben nicht um die persönliche Eitelkeit geht oder um eine persönliche Aufmerksamkeitsgeilheit. Natürlich muss es auch einen Intendanten geben, der solche Konstellationen herstellt oder zumindest fördert. Und natürlich: Eine adäquate Bezahlung für alle Beteiligten muss einfach sein.
Und wie haben Sie das Lied für sich entdeckt?
Nigl: Ich hatte im Studium in Wien einen Freund, der kein Musikstudent war. Bei ihm habe ich nach meinem Unterricht immer Schubert und Brahms gesungen, danach haben wir Schach gespielt und eine Salami gegessen. Und da ist eigentlich erst die Liebe zum Lied entstanden. Was nicht heißt, dass ich vorher das Kunstlied nicht kannte. Als waschechter Wiener kommst schließlich am Franzl [Schubert, d. Red.] ned vorbei.
Wie stark sind Sie eigentlich Ihrer Heimatstadt verbunden?
Nigl: Mit größter Distanz und mit größter Nähe. Ich bin sängerisch unglaublich viel unterwegs in Europa und habe durch meine Professur in Stuttgart natürlich auch noch einen engeren Bezug zu dieser Stadt. Aber mein Zuhause wird immer dort sein, wo meine Liebsten und wo meine Bücher sind. Und die sind in Wien.
Georg Nigl singt „Komm, süßer Tod“ von Bach: