Kinder von Opernsängern erkennt man oft an ihrem Vornamen. Ihre Eltern nannten Sie Ariane. Nach den Opern von Massenet, Monteverdi oder Richard Strauss?
Ariane Matiakh: Nein, eigentlich nach der Arianna-Kantate von Haydn, die meine Mutter sang, als sie schwanger war. Ich habe das Werk übrigens auch dirigiert, ich fand es sehr berührend.
Der Name Ariane soll auch „die Ausweg Findende“ bedeuten, in Anlehnung an den mythologischen Ariadnefaden.
Matiakh: Ach, das ist ein schönes Bild! Und passt so gut zu unserem Beruf. Eben in der Probe mit der Württembergischen Philharmonie hatten wir ein sehr komplexes Werk mit vielen Umbauten und akustischen Tests. Das ist wie ein Labyrinth und ich muss immer den Ausgang finden.
Woher stammt Ihr Nachname Matiakh?
Matiakh: Er geht auf meinen ukrainischen Großvater zurück, der traumatisiert von der bolschewikischen Revolution vor hundert Jahren nach Frankreich floh. Ein anderer Krieg zu einer anderen Zeit. Gerade lerne ich Russisch. Doch er wollte nicht, dass wir die Sprache lernen. Er hatte Angst, dass wir zurückgehen könnten. Und er war sich sicher, dass es noch weitere Kriege geben würde. Er hat ja Recht behalten. Doch ein Teil seiner Familie blieb dort und erlebte viele Krisen. Familienangehörige wurden ermordet, etliche Cousinen wohnen heute in der Schweiz.
Warum sind Sie eigentlich keine Sängerin geworden?
Matiakh: Wegen meiner Eltern. Ich habe das Singen zwar geliebt, habe während meines Studiums in Wien im Arnold Schoenberg Chor Sopran gesungen und singe heute als Dirigentin immer noch mit, besonders bei Opernproben. Aber irgendwie wollte ich all die Schwierigkeiten eines Sängers auch im privaten Leben vermeiden.
Wie meinen Sie das?
Matiakh: Der Sänger muss sich sehr um sich selbst kümmern, seine Stimme, seine Gesundheit ist sein Kapital. Vieles konzentriert sich auf das Ich. Was ich besonders am Dirigieren mag, ist das Arbeiten mit dem Gegenüber. Ich liebe es, etwas zu entwickeln, zu genießen, zu teilen. Je mehr Menschen auf der Bühne, umso glücklicher bin ich. Ich mag mich auch, um Menschen kümmern.
Irgendwo las ich, dass es ein Foto von Ihnen gibt. Da sind Sie vier Jahre alt, stehen auf dem Küchentisch und ‚dirigieren‘ eine Wagner-Oper, die im Radio läuft.
Matiakh: Das ist wahr! Ich hatte früh eine große Leidenschaft und Liebe für den großen Orchesterklang. Es gibt so viele Stilrichtungen im Orchesterrepertoire!
Schaut auf man auf die Zahlen an deutschen Hochschulen, interessieren sich Frauen mehr für die Fortbildung als Chordirigentin denn als Orchesterdirigentin. Warum ist das so?
Matiakh: Der Frauengeneration vor mir in Frankreich hat man tatsächlich empfohlen, Chordirigentin zu werden oder kleine Ensembles zu dirigieren. „Passender“ fand man das, wie die Leute sagten …
… oder ‚prestigearm‘, wie die Familienkonzerte in den Education-Programmen, mit denen man aber keine große Karriere machen kann.
Matiakh: Ja, genau! Und viele Frauen glauben dann, dass dort ihr Platz ist, und wagen nicht mehr. Natürlich kann eine solche Aufgabe sehr schön sein, aber sie entspricht oft nicht mehr den Träumen, die viele Frauen einst hatten.
Simone Young sagt: „Dirigieren ist, wenn man sein Instrument liebt, aber nicht zwangsläufig zurückgeliebt wird. Vielleicht halten Frauen das schlechter aus, emotional“.
Matiakh: Das hängt natürlich von der Persönlichkeit ab. Man muss lernen, eigene Visionen durchzusetzen, Vertrauen in sich zu haben und nicht gleich bei Konflikten aufzugeben. Man muss sich trauen, Mut haben und sich sagen: ‚Ich will das jetzt trotz aller Schwierigkeiten machen!‘ Die Männer müssen das doch auch!
Als Französin haben Sie ein wunderbares Vorbild: Nadia Boulanger.
Matiakh: Absolut! Sie war ein Genie, sie hätte heute noch sehr viel mehr erreichen müssen. Viele ihrer Studenten wurden weltberühmt als Dirigenten und Komponisten – alles Männer. Sie war eine der ersten Dirigentinnen, ja, aber sie hätte noch sehr viel mehr Gelegenheiten bekommen, wenn sie ein Mann gewesen wäre. Bis heute finde ich es unfair, dass sie meistens nur als Pädagogin bekannt wurde und die anderen strahlen ließ.
Zu dieser Zeit spotteten Komponisten wie Richard Strauss: „Eine Berockte und 100 Mann zum Unisono bringen – das wär’ a Gaudi.“
Matiakh: Schlimm auch das, was der finnische Dirigier-Professor Jorma Panula machte. Er unterteilte 2014 das Repertoire in „männliche“ Musik wie Bruckner und Strawinsky und „weibliche“ wie Debussy. Es nervt mich, wenn Leute mich fragen, ob es einen Unterschied zwischen Frau und Mann beim Dirigieren gibt. Jeder Dirigent hat seine eigene Empfindsamkeit und Sprache. Wir sind viel mehr als nur Männer und Frauen.
„Wenn ich zum Dirigieren aufstehe, denke ich nicht darüber nach, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Ich mache meine Arbeit“, sagte Boulanger 1939 selbstbewusst.
Matiakh: Ich wusste nicht, dass das Zitat von ihr stammt. Ich denke genauso. Ich denke nie in der Kategorie: Wird das heute schwierig sein, weil ich eine Frau bin? Mir kommt dieser Beruf absolut natürlich vor. Ich habe hier in Deutschland, wo ein großer Teil meiner Laufbahn stattgefunden hat, auch nie Diskriminierung wegen meines Geschlechts erlebt. Interessanterweise war für meine Position hier an der Württembergischen Philharmonie wichtiger, dass ich Deutsch spreche und nicht so weit entfernt wohne. Wichtig ist: Wenn man den Job gut macht, dann gibt es auch keine Diskussionen.
Wie ist denn die Akzeptanz bei den Musikerinnen im Orchester?
Matiakh: Sehr gut. Ich hatte nie Probleme.
Marin Alsop beschrieb eine interessante Erfahrung: Als sie eines Tages ein Flugzeug bestieg und im Cockpit nur Frauen sah, fühlte sie sich zunächst unsicher und ärgerte sich selbst über ihre Reaktion.
Matiakh: Das bedeutet ja nichts.
Liegt es tief verankert in unserer Erziehung, dass wir glauben, dass nur Männer führen und sich durchsetzen können?
Matiakh: Ich habe das nie so empfunden. Ich sehe auch, dass es viele Frauen gibt, die sich freuen, wenn eine Frau am Pult steht. Je mehr Frauen in Führungspositionen kommen, und damit meine ich in allen Branchen, umso mehr werden wir uns daran gewöhnen. Frauen müssen selbstbewusster sein und signalisieren, dass sie das alles auch schaffen können.
Haben Sie ‚Tar‘ gesehen, den Film, in dem Cate Blanchett eine Dirigentin spielt?
Matiakh: Ich habe davon gehört von Musikern, die ihn in Amerika gesehen haben. Alles, was ich höre, ist schrecklich. Eine Katastrophe!
Warum?
Matiakh: Wir sind gerade dabei, daran zu arbeiten, dass die Frauen in unserer Branche akzeptiert werden. Und dann kommt so ein Film, der die ganze Arbeit kaputt macht! Eine Dirigentin steht im Mittelpunkt, die sich so schlecht benimmt wie einige Männer vorher, eine umgekehrte Me-too-Geschichte! Wie gesagt, ich gebe nur das wieder, was mir erzählt wurde.
Vielleicht kann man Intrigen und Mobbing spannender in einem Film inszenieren als den wahren Alltag einer Dirigentin, der meist aus dem sehr nüchternen Studium von Partituren besteht?
Matiakh: Im Film geht es offenbar nicht um Musik. Momentan kämpfen wir alle gegen diese Machtspielchen an, gegen Tyrannei und Mobbing, und dann kommt ein Film mit einer sehr berühmten Schauspielerin und stellt unser Leben so dar! Das ist enttäuschend und frustrierend.