Im munteren Wechsel zwischen perfektem Deutsch, Englisch und Italienisch spricht Antonio Pappano in seiner Wohnung in Rom über sein faszinierendes Musikerleben zwischen den Kulturen. Pappano ist Musikchef des Opernhauses von Covent Garden in London und der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom.
Ihr Name erinnert an Ihre italienischen Wurzeln, doch Sie sind stark durch mehrere Kulturen geprägt. Als was fühlen Sie sich?
Ich bin Amerikaner, ich bin Engländer, und ich bin Italiener. Ich glaube, man muss als Musiker ein Chamäleon sein. Dieses Hin und Her liebe ich sehr. Was heißt überhaupt „Identität“ heutzutage, wenn ich Mahlers Sinfonie der Tausend mit den Texten aus Goethes Faust in Rom mit meinem italienischen Orchester und Chor und deutschen Solisten einstudiere und dann ein internationales Publikum im Saal sitzt? Meine amerikanische Seite ist sehr stark, als Teenager haben mich die Sprache, das Fernsehen, das Lebensgefühl dort sehr geprägt. In Amerika hatte ich meine wichtigste Klavierlehrerin, die mich sehr beeinflusst hat. Jetzt fühle ich meine italienischen Wurzeln viel stärker als früher. Ich merke genau, warum meine Musiker genau so phrasieren, ich spüre, warum ihnen manches leicht, anderes schwer fällt.
Ihre Lebensmittelpunkte Rom und London spiegeln die Pole der europäischen Musikkultur wider: der Norden ist sinfonisch geprägt, der Süden ist Opernland. Sie leben diese Pole allerdings genau umgekehrt: In London machen Sie Oper, in Rom leiten Sie das beste Sinfonieorchester Italiens.
Hier in Rom habe ich viele junge Leute im Orchester, die kaum Erfahrung im Musiktheater besitzen, aber die Operntradition irgendwie im Blut haben. Dieses Gespür ist voll da – gerade in der Phrasierung. Es ist eine große Hilfe, wenn es um die Kantabilität der Musik geht. Über diesen Charme des Melodischen verfügen nur wenige Orchester! Die vokale Tradition des Landes hilft uns so sehr, auch weil durch sie sofort die Kommunikation zum Publikum entsteht. Die Strenge des Sinfonischen, wenn die Musik auch mal quadratisch sein muss, fällt den Musikern schwerer. Nehmen wir die Tradition des satten deutschen Klangs: Wenn es nicht singt, bringt die auch nichts. Die Größe von Furtwängler oder Karajan bestand doch darin, dass die Musik bei ihnen nicht nur dick und breit klang, sondern im Inneren diese Sanglichkeit hatte. Wir müssen bei uns nun umgekehrt sozusagen an der Sattheit arbeiten, nur nicht zuviel! Was eine Musikkultur an Positivem hat, muss man nutzen. Die italienischen Musiker verstehen sofort, was Farbe, was Parfüm bedeutet.
Ist Probenarbeit hier dann ein ständiger Ausgleich dieser Parameter?
Meine Verantwortung ist, das Positive und das Negative, Melos und Rhythmus, Gefühl und Intelligenz in eine Balance zu bringen. Unsere Aufnahmen zeigen genau diesen spannenden Ausgleich zwischen Lyrik und Strenge. Unsere Mahler-Einspielung hat Kohärenz und Sinn, sie ist nicht nur ein italienisches Baden in Kantabilität. Mahler war ja ein ganz großer Operndirigent, für mich ist er in seinen Sinfonien der größte Erzähler überhaupt. Alles ist theatralisch, alles offenbart die Konflikte seiner schwierigen Ehe. Das bringen wir zum Klingen.
Warum haben Italiener so eine Affinität zu Mahler?
Das liegt in ihrer Neurotik. Das Nervöse und Übertriebene ist Teil der italienischen Psyche – bei aller Extrovertiertheit, die sie zunächst ausstrahlen. Die Italiener mit ihrer Neigung zur Melancholie finden in Mahler sich selbst wieder.
Wie hat die Arbeit am sinfonischen Repertoire in Italien Sie selbst verändert?
Es hat mir Zeit gegeben, mich selbst zu erkennen und zu entwickeln. Oper ist mein Leben, aber Oper hat mit vielen anderen Dingen als Musik zu tun, die mich alle faszinieren: die Regie, die ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, das Geschäft, ein Theater zu leiten. Wenn man dann aber eine Sinfonie von Brahms, Schumann oder Mahler vor sich hat, dann ist es, als ob man in den Spiegel schaut. Was weiß ich wirklich? Was muss ich einbringen? Was fühle ich? Ich kann wärmer dirigieren, stärker, kontrastierter, persönlicher. Ich kapiere wirklich, wie ich große Strukturen für die Musiker leicht und zugänglich machen kann und was meine eigentliche Aufgabe ist: „Maestro“ bedeutet, Lehrer zu sein! Und ein Lehrer lernt ja auch viel über sich selbst. Es ist ein großes Glück, hier zu sein, auch in schwierigen Zeiten.
Sie sind ein Maestro alter Schule, haben früh mit Sängern korrepetiert. Man merkt in jeder Phrase, wie Ihr Dirigieren vom gemeinsamem Atem mit Ihren Musikern getragen ist…
Ich halte diesen Weg für fundamental. Wie soll ein Dirigent vor einen Sänger treten, wenn er nichts zu sagen hat über Text, Ausdruck und Phrasierung? Ich finde: Alle Musik ist irgendwie Theater. Dieser Geruch des Theaters. Das Leiden und das Lieben und das Hassen. Eine Sinfonie ist schon deshalb Theater, weil sie die Sonatenform besitzt: Es gibt ein erstes Thema und ein zweites Thema, beide tragen einen Konflikt aus und kommen zu einer Lösung. Wenn man das Theater wirklich versteht, merkt man, wie man auch eine Sinfonie interessant und spannend gestalten kann. Nun haben wir die Tendenz, dass Dirigenten immer jünger werden. Viele davon sind unglaublich talentiert, machen diese Star-Karrieren. Fürs Dirigieren aber braucht man Zeit.
Muss ein Sinfonieorchester heutzutage das gesamte Repertoire von Bach bis Moderne stilgenau spielen können?
Ich glaube: Ja. Man muss bei Bach anfangen, um zu lernen, was eine kurze Note ist und was eine lange Note bedeutet, was Groove ist, worin das tänzerische Element von Musik liegt. Ich möchte zum Beispiel mehr und mehr Haydn mit meinem Orchester machen, das ist so eine fantastische Musik: Da lernt das Orchester nicht nur, was Kammermusik bedeutet, sondern auch, einen Ton zu finden, der lächelt, der kurz, charmant und pointiert ist. Das ist so schwer, kommt allerdings dem natürlichen Gefühl der Italiener für die sprühende Leichtigkeit Rossinis durchaus nah.
Was bedeutet Ihnen der Komponist Hans Werner Henze, der Ehrenmitglied von Santa Cecilia war?
Als jemand, der eine Menge Zeit damit verbringt, Opern zu dirigieren, war ich fasziniert von der Idee, Hans Werner Henze den Kompositionsauftrag zu einem Vokalwerk für Santa Cecilia zu erteilen. Er besaß diese genuine und seltene Theatralität. Mir ist es nur peinlich, dass es das erste Mal war, dass eine italienische Kultureinrichtung ihn um ein Auftragswerk gebeten hat – nachdem er doch über 40 Jahre in Italien gelebt hatte!
Sehen Sie Henze in der Tradition der „großen deutschen“ Komponisten?
Hans schrieb die Wahrheit. Er entstammt einer langen Tradition von Komponisten, nicht unbedingt nur deutschen, die fasziniert waren von Charakter, Haltung und Motivation in der Kunst. Die Hauptkraft bildet die Liebe, er suchte stets nach Themen, die mit diesem Ideal kämpften. „Opfergang“, das wir nach Hamburg mitbringen, ist auf jeden Fall ein Paradebeispiel hierfür.
Was ist das Besondere an diesem Werk?
Der Kontrast zwischen den beiden wichtigsten Protagonisten – einem Bösewicht und einem aristokratischen „weißen Hund“ – ist absolut erstaunlich. Und die Musik, die beide ausmalt, ist es auch. Lebendige Monologe, unglaubliche Dialoge, Grausamkeit, Gewalt, Hinnahme, Hoffnung und die Vision auf eine andere Welt. All dies ausgedrückt in einem unmittelbaren und, für mich, zeitlosen Idiom. John Tomlinson und Ian Bostridge sind unvergesslich in den ihnen auf den Leib geschriebenen Rollen.