Am 25. Mai starb in Minneapolis der 46-jährige Afroamerikaner George Floyd an den Folgen einer gewaltsamen Festnahme durch die dortige Polizei. Das verstörende Video, das die Vorgänge zeigt, löste weltweit Empörung aus. Anthony McGill, erster Soloklarinettist des New York Philharmonic und in dieser Funktion der erste afroamerikanische Stimmführer des Orchesters, dachte angesichts der Ausschreitungen in seiner Stadt nicht lange nach und wurde aktiv. Drei Tage nach dem Mord an George Floyd veröffentlichte er unter dem Hashtag #TakeTwoKnees ein Video sowie ein Statement zur aktuellen Situation in den sozialen Medien.
In seinem Aufruf prangert er die ungleiche Behandlung von Afroamerikanern im Gestern und Heute an: „Das Leben von Schwarzen war in der guten alten Zeit nichts wert und scheint es bis heute nicht zu sein.“ In Anlehnung an den Kniefall des Football-Spielers Colin Kaepernick, der 2016 vor einem Spiel während der Nationalhymne auf die Knie sank, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu demonstrieren, nimmt auch Anthony McGill in seinem Video diese Position ein. Mittlerweile haben sich mehr als 500 Musiker aus aller Welt ein Beispiel genommen und sind ebenfalls auf die Knie gegangen.
Anthony, wie waren die letzten Tage für Sie?
Anthony McGill: Wenn man das so sagen kann: interessant. Seit ich die Initiative #TakeTwoKnees vor einer Woche angestoßen habe, erhalte und beantworte ich jeden Tag unzählige Nachrichten aus der ganzen Welt und sehe mir die Videos an, die unter dem Hashtag veröffentlicht werden. Meine Kollegen haben sich bei mir dafür bedankt, dass ich ihnen eine Möglichkeit gegeben habe, sich in ihrer eigenen musikalischen Sprache zum Thema Rassismus zu äußern. Das ist sehr inspirierend. Wenn man betrachtet, was gerade in dieser Welt passiert – die Niedergeschlagenheit, die Angst, der Schmerz –, ist es ermutigend und herzerwärmend zu sehen, dass auch Positives aus Negativem erwachsen kann. Die Menschen versuchen, ihre Stimme zu erheben und etwas zu bewegen.
Wie kamen Sie auf die Idee zu #TakeTwoKnees?
McGill: Vor ein paar Monaten, noch bevor die Corona-Krise begann, habe ich ein Buch gelesen: „New Power: How Anyone Can Persuade, Mobilize, and Succeed in Our Chaotic, Connected Age“ von Henry Timms und Jeremy Heimans. Sie sprechen in ihrem Buch darüber, wie Veränderung in unserer Zeit vonstatten geht und wie Menschen sich an dieser Veränderung beteiligen können. Was mich inspiriert hat, waren der Nachklang dieses Buches gekoppelt mit der Angst und den Eindrücken, die uns alle und mich in den letzten Monaten und Tagen umgeben haben. Ich wachte eines Morgens auf und begann aufzuschreiben, was es für mich bedeutet, frei zu sein, Amerikaner zu sein und für das Richtige einzustehen. Missstände öffentlich zu machen ist etwas, das wenig akzeptiert wird – unabhängig von der Form, die man wählt. Menschen mögen es nicht, wenn jemand sich beschwert oder gegen etwas protestiert. Diesen Gedanken hatte ich im Kopf, als ich dieses Statement niederschrieb, das fordert, jetzt zu handeln, wieder zu handeln. Zu oft haben wir vergebens versucht, Veränderung herbeizuführen, was die Gleichheit aller Menschen anbelangt.
Aber das Statement allein war Ihnen zu wenig…
McGill: Es war der erste Versuch. Aber mir wurde schnell klar, dass ich meine Aussage mit meiner Klarinette bekräftigen muss, denn sie ist meine wahre Stimme in dieser Welt, meine Kraft. Doch nur in der Kombination aus Wort und Musik konnte ich meine Ideen, meine Meinung vollständig darstellen. Von Anfang an wollte ich meine Kollegen und Freunde auch auffordern, teilzuhaben an der Aktion, über Rassismus nachzudenken und offen darüber zu sprechen, wenn sie das Bedürfnis dazu haben. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass sich so viele zu Wort melden würden.
Politischer Aktivismus ist in der Klassikbranche und unter Musikern auch nicht gang und gäbe. Werden Sie jetzt als Held gefeiert?
McGill: Ich bin definitiv kein Held. Die Menschen, die ihr Leben einsetzen in dieser Pandemie und in den Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus – das sind die wahren Helden. Aber es hat mich einiges an Mut gekostet, mit meiner Stimme, meinen Gefühlen und meiner Meinung an die Öffentlichkeit zu gehen. Natürlich teilt jeder von uns Emotionen und Gedanken über Politik, Religion und auch Rassismus mit anderen – aber nur im Privaten. Und selbst dort oft nur eingeschränkt. Sich mit seiner Meinung aber öffentlich zu zeigen, braucht eigentlich Zeit, um sich genau zu überlegen, was man wie und wem sagen möchte. Aber diese Zeit hatte ich nicht. Hätte ich mir auch nur einen Tag länger zum Nachdenken gegeben – ich hätte das Statement wahrscheinlich nie veröffentlicht. Man kann aber keine Bewegung starten, wenn man den Menschen nicht klar und ehrlich kommuniziert, woran man glaubt.
Wie waren die Reaktionen?
McGill: Niemand wusste, dass ich #TakeTwoKnees starten wollte. Und bis heute weiß ich nicht, wie meine Kollegen anfangs über die Aktion gedacht haben. Unsere Klassikwelt ist sehr freundlich, aber auch sehr konservativ. Aber mir war das eigentlich egal. Denn als ich mit all der Liebe, Unterstützung und Zuversicht konfrontiert wurde, die mein Statement und das Video auslösten, war alles andere unwichtig. Die Kommentare waren voll des Dankes für die Inspiration, den nötigen Anstoß, den so viele gebraucht haben, um ihre künstlerische Stimme zu erheben. Mir wurde klar, dass es den Menschen wirklich wichtig ist, gehört zu werden. Und wie ich schon in meinem Statement gesagt habe: Wenn das hier radikal erscheint, dann haben wir alle ein Problem. Es sollte nicht radikal sein, sich für die Gleichheit aller und ihre Lebensrechte einzusetzen – das sollte die Basis einer Gesellschaft sein. Und das ist doch eine sehr konservative Denkweise!
Sie sind Solo-Klarinettist des New York Philharmonic und haben davor lange Zeit im Orchester der Metropolitan Opera gespielt. In beiden Klangkörpern sowie auf der Bühne der Met finden sich wenige afroamerikanische Musiker. Inwieweit beschäftigt es Sie, dass dieser Umstand kaum diskutiert wird?
McGill: Natürlich sehr. Deshalb ist es auch so wichtig, die Maske abzunehmen und einen Dialog zu starten. Die Fragen, die beantwortet werden müssen, sind: Wer beurteilt Künstler und wählt sie aus? Wie findet diese Beurteilung statt? Und warum? Es gibt immer wieder die Diskussion über die Qualität der Musiker und den Mangel an hochqualifizierten Künstlern. Aber wir alle wissen doch, dass gar kein Mangel herrscht. Aber es ist absolut radikal, das laut auszusprechen! Viele gehen wahrscheinlich davon aus, dass es mir als Afroamerikaner unangenehm ist, über diese Dinge zu reden. Aber auch, wenn ich mich bislang nicht direkt geäußert habe, hatte ich doch immer das Gefühl und den Wunsch, dass es Veränderungen und Fortschritt geben müsste – in unserer Branche und in der Welt. Es geht nicht darum, eine Kunstform wie die Oper oder klassische Musik im Allgemeinen zu erniedrigen, indem man sie hinterfragt. Mir geht es um Gleichheit und Gleichwertigkeit. Darum, was man als Künstler beizutragen hat – unabhängig von der Hautfarbe. Wir müssen uns klarmachen, was unsere Probleme sind, und aufhören, uns vor ihrer Lösung zu drücken.
Solche Offenheit können sich nur wenige leisten …
McGill: Aufgrund meiner Karriere und – wenn man so will – meines Status mache ich mir keine Sorgen um die Konsequenzen meiner Offenheit. Es ist wichtig, dass mehr Künstler, Unternehmen und Manager verstehen, dass es in Ordnung ist, sich mehr anzustrengen. Offener zu sein. Denn wenn wir nicht über unsere brancheneigenen Probleme sprechen, sind wir schlecht dran.
Wie haben Sie in Ihrer Karriere Rassismus erfahren?
McGill: In ganz unterschiedlicher Art und Weise. Das reicht von Kollegen, die witzig sein wollen, was meine Hautfarbe anbelangt, bis hin zu Kommentaren von Konzertbesuchern oder Bekannten nach der Aufführung. Man trifft Rassismus an Orten, wo man ihn am wenigsten vermuten würde. Und das hat nichts mit dem Karrierelevel zu tun – er ist einfach überall.
Was muss sich Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft verändern, um Rassismus keine Bühne mehr zu geben?
McGill: Die Menschen müssen sich darüber klar werden, was Gleichberechtigung wirklich bedeutet. Die Gesellschaft muss verstehen, dass niemand „anders“ ist. Es wird zwar immer Menschen geben, die anders sprechen als man selbst, die anders aussehen, andere Feiertage und Traditionen haben. Aber es muss ein Grundverständnis darüber herrschen, dass jeder Mensch Teil der menschlichen Rasse, der menschlichen Kultur ist.
Wie kann jeder Einzelne dazu beitragen?
McGill: Indem er kleine Schritte vorangeht. Wenn man etwas Neues in seinen Alltag integrieren möchte, macht man das nicht im Großen, sondern im Kleinen. Eine Sache nach der anderen. Das nimmt einem auch die Angst vor der großen Veränderung. Jeder sollte die Vorurteile, die er anderen gegenüber hat, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und im Zweifel das Gespräch suchen. Und wir müssen daran glauben, etwas verändern zu können für die, die nach uns kommen. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass man mit harter Arbeit und einer positiven Grundeinstellung alles erreichen kann. Und wenn wir uns als Gesellschaft genau das auf die Fahnen schreiben, werden wir für uns, für unsere Kinder, für alle Menschen eine bessere Zukunft schaffen. Jeder von uns und wir alle zusammen.
Anthony McGills Statement:
This “normal” isn’t new. It’s just easier to see what’s going on now that some of the horrific hate crimes that happen every day make the national news. Complacency is rampant, and hiding behind privilege is obviously just as bad. If there were hashtag movements in the last century during America’s ‘good old days’ one could have easily been #BlackLivesDefinitelyDontMatter. Few would have batted an eye.
Earlier this year, before the pandemic, I performed in Birmingham, Alabama and Tulsa, Oklahoma. The challenging history of those places speaks for itself, but in those two trips, I met some of the nicest people that you’ll ever meet in this country. I also pondered how far we’ve come and how far we still have to go in terms of treating everyone with respect and decency. We live alongside that reality all across America. What the news this week and most weeks of my life demonstrates, however, is that Black lives didn’t matter in our glorified past, and still don’t matter that much today.
Flashback then with me to when a football player attempted a protest, bringing to our attention the murder of black people. People said: ‹Let’s not politicize sports,’ and ‘all lives matter.’ Now add to that list Ahmaud Arbery and George Floyd, two men who clearly didn’t deserve their fates.
Now we don’t have sports to distract us, and we’re mostly at home. Now’s the time to protest. Can we say #ALMBLM2 (All lives matter and black lives matter as well)? Or #HowAboutNow? Or maybe the best thing to share is #ICareAboutBlackLives. #ICareAboutBlackLives is a pretty innocent statement, so if that’s considered radical we’ll have really shined a light on the problem.
So join me. Pick one of these potent hashtags, or all of them. And this time let’s try and #TakeTwoKnees in the struggle for justice and decency. No guidelines. Your message, your voice, your mission, your focus. Just #TakeTwoKnees for what you believe in. Pass it along. Let’s try this again and put a spotlight on this evil. #TakeTwoKnees