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Interview Andrew Manze

„Ich fühle mich nicht als Polizist“

Andrew Manze über seine Zeit als Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie, seine Vergangenheit als Altphilologe und seine Abneigung gegen „Bleistift-Musik“.

vonJan-Hendrik Maier,

Starallüren sind Andrew Manze fremd. Der Dirigent und Barockviolinist gibt sich im Gespräch nach einer Probe in Hannover erfrischend unprätentiös und hat stets eine Anekdote zur Hand. Im kommenden Sommer legt der Brite nach neun Jahren sein Amt als Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie nieder.

Worauf freuen Sie sich, wenn Sie nach Hannover kommen?

Andrew Manze: Ich bin immer etwas aufgeregt, ob ich dem Orchester etwas zeige oder andersherum. Gerade haben wir Elgars erste Sinfonie geprobt, die ich sehr schätze, aber die nicht alle kennen. Das ist spannend. Ich höre den Musikerinnen und Musikern gerne zu und will wissen, was sie über das Stück denken. Nur so kann gute Musik überhaupt entstehen.

Wie sehen Sie Ihre Aufgabe als Dirigent?

Manze: Ich versuche, ohne eine vorgefertigte Meinung in eine Probe zu kommen. Es geht mir nicht darum zu sagen: Ich bin der Maestro und so und so muss es gemacht werden, sondern ich will die Musik gemeinsam erleben. Natürlich habe ich Ideen für die Interpretation, aber ich fühle mich nicht als Polizist. Um es mit Colin Davis zu sagen: Das Wichtigste ist, den Musikern dabei zu helfen, sich an die Liebe zu erinnern, die sie einst so hart arbeiten ließ, dass sie heute im Orchester sitzen können.

Was erwarten Sie von einem Orchester?

Manze: Ich schätze jene Klangkörper, die bereit sind, die Musik jedes Mal aufs Neue zu erforschen, und nicht die, deren Musiker schon alles wissen. Mahler bezeichnete Tradition einmal als Schlamperei. Ich denke, es gibt wunderbare Traditionen, die man beibehalten sollte, und schlampige Traditionen. Man muss sich schon einige Gedanken machen, um diese voneinander zu unterscheiden.

Glauben Sie, dass Musik die Kraft hat, Dinge zu verändern?

Manze: Ich bin nicht so naiv zu behaupten, dass ein gutes Konzert die Welt besser macht. Aber Musik ist integraler Bestandteil jeder Zivilisation. Wir kommunizieren durch sie, wir bewundern Komponisten und vielleicht auch ein Orchester in Aktion. In der Musik zeigt sich die Gesellschaft als Mikrokosmos, das ist äußerst wertvoll.

Andrew Manze hat seine Barockvioline gegen den Taktstock getauscht
Andrew Manze hat seine Barockvioline gegen den Taktstock getauscht

Welche Projekte liegen Ihnen in der kommenden Spielzeit am Herzen?

Manze: Ich freue mich wirklich auf jedes einzelne Konzert! Wir haben nach Jahren endlich einen Termin gefunden, um Beethovens Tripelkonzert mit Harriet Krijgh und Baiba und Lauma Skride aufzuführen. Gemeinsam entdecken wir Michael Tippetts zugegeben schwierige, aber äußerst erfüllende zweite Sinfonie. Unser Solo-Hornist Ivo Dudler wird das Glière-Konzert spielen, und wir werden unser Projekt mit traditioneller russischer Musik von Rachmaninow und Prokofjew fortsetzen – Komponisten, die das Orchester nicht häufig aufgeführt hat. Gleich danach geht es mit einem Beethoven- und Brahms-Programm auf Japan-Tournee. Und dann ist da natürlich noch das Brahms-Festival im Kuppelsaal …

… mit allen Sinfonien, Solokonzerten und dem „Deutschen Requiem“ innerhalb einer Woche im März.

Manze: Wir spielen Werke aus nahezu allen Schaffensperioden. Ich will zeigen, dass es nicht den einen Brahms gibt, sondern ganz viele: den klassischen, den sanften, den romantischen. Eine amerikanische Zeitung hat 1900 geschrieben, im Konzertsaal müsse es ein Schild geben mit „Exit in Case of Brahms“ – als so modern galt damals seine Musik. Das Festival ist eine Einladung an alle Menschen, ins Konzert zu kommen, egal ob klassik- und Brahms-erfahren oder nicht.

Welche Bedeutung hat Brahms für Sie?

Manze: Meine Mutter hatte mich einmal nicht mit ins Konzert genommen, weil sie glaubte, ich sei für Brahms zu jung. Von da an war er für mich der aufregendste Komponist! Ich habe in der Übergangszeit vom Geiger zum Dirigenten viel Brahms gemacht. Seine Musik hat viel Romantisches, aber auch genauso viel Akademisches. Die Frage, wie sie zu spielen ist, hilft mir, mein Wissen aus der historisch-informierten Aufführungspraxis aktiv im Gedächtnis zu behalten.

Vor Ihrer musikalischen Karriere studierten Sie Latein und Griechisch.

Manze: Ich profitiere davon noch heute, denn es hat mich eine bestimmte Art zu denken gelehrt: Wie kann man mit wenigen Informationen auf das große Ganze schließen und was sind „gute“ Informationen? Zum Orchester sage ich immer, es soll zunächst in die Musik hineinfühlen, sich eine Vorstellung davon machen, wie das Stück klingen soll, und erst dann auf die Angaben in der Partitur schauen. Bloß nicht jedem Crescendo, jedem Diminuendo und jedem Akzent folgen. Neville Marriner nannte das „Bleistift-Musik“, und die tötet jede Melodie. Jörg Widmann hat mir einmal gesagt, dass die Musik, wie sie im Moment auf der Bühne entsteht, wichtiger ist als das, was er vor Jahren in die Partitur geschrieben hat. Das ist belebend.

Wie kam es zu der Entscheidung, sich ganz auf das Dirigieren zu konzentrieren?

Manze: 2008 waren meine Kinder noch klein, ich bin viel gereist, und als ich nach Hause gekommen bin, wollte ich nicht sofort wieder im Nebenzimmer verschwinden, um zu üben. Das alles war nötig, um mein Niveau zu halten. Zudem kam ich damals zu dem Schluss, dass ich nun genug Barock und Klassik auf der Geige gespielt habe. Ich wollte etwas anderes machen. Meine Karriere fühlt sich ein bisschen wie die Geschichte des Dirigierens an: vom Stehgeiger zum Konzertmeister und schließlich nur noch mit dem Taktstock in der Hand. Wäre ich heute noch Solist, hätte ich großartige Musiker wie Christian Tetzlaff wohl nicht kennengelernt. Die Geigen im Orchester spielen hervorragend, das stillt mein Bedürfnis nach diesem Instrument.

Andrew Manze ist seit seiner Kindheit fasziniert von Brahms
Andrew Manze ist seit seiner Kindheit fasziniert von Brahms

Sie wohnen in Stockholm, pendeln regelmäßig nach Hannover und Liverpool und nehmen weltweit Gastdirigate wahr. Wie stemmen Sie das?

Manze: Die Arbeit mit verschiedenen Orchestern und ein offener Geist für das, was sie im jeweiligen Werk schon erarbeitet haben, schärft meinen Blick für das Werk. Zudem lerne ich Musik gerne lang im Voraus. Ich gehe systematisch vor: Heute ist ein Tag für Schönbergs „Erwartung“, morgen ist Brahms an der Reihe. Kehre ich dann zu einem Stück zurück, fühlt sich das so an, als ob ich einen Garten betrete, in dem schon viel Arbeit geleistet wurde, wo aber immer noch etwas zu tun ist. Ich habe großes Glück, diesen Beruf ausüben zu dürfen.

Sie verabschieden sich mit Mahlers „Auferstehungssinfonie“ aus Hannover.

Manze: Seit ich sechzehn bin, liebe ich dieses Werk, das mit einer Art Totenfeier-Musik beginnt und mit so viel Erlösung endet. Während meiner Zeit im European Community Youth Orchestra waren wir mit dieser Sinfonie und Claudio Abbado auf Europa-Tournee. In Hannover wollten wir damit die Spielzeit 2021/22 eröffnen, aber das ging wegen Corona nicht.

Was werden Sie aus den neun Jahren hier mitnehmen?

Manze: Ich bin vor allem dem Orchester dankbar, die Musiker haben mir viel beigebracht. Sicherlich bin ich ein besserer Dirigent geworden, hoffentlich auch ein interessanterer Musiker.

Was planen Sie für die Zeit nach Hannover?

Manze: Die vergangenen Jahre waren sehr freudvoll, wegen der Pandemie aber auch von harter Arbeit geprägt. Ich habe einige Projekte in Aussicht, aber zuallererst werde ich eine Pause machen und mir Zeit nehmen, um ausgiebig in der Natur spazieren zu gehen.

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