Wenn Andrés Orozco-Estrada im Sommer nächsten Jahres das hr-Sinfonieorchester verlässt, wird er sieben Jahr lang den Klangkörper geleitetet haben. Es waren wahrlich keine sieben dürre Jahre, ganz im Gegenteil: Die CD-Veröffentlichungen stießen auf internationale Begeisterung, auch die innovativen Konzertformate fanden reichlich Zuspruch beim Publikum. Doch schon mit Beginn seiner letzten Spielzeit trat der Kolumbianer im Oktober seine neue Stelle als Chefdirigent der Wiener Symphoniker an.
In einer kolumbianischen Zeitung hieß es, dass Ihre Laufbahn mit einem kaputten Zahn begann.
Andrés Orozco-Estrada: Als ich etwa mit achtzehn Jahren von Medellín, wo ich geboren bin, nach Bogotá zum Studium kam, habe ich im Orchester, wo ich Geiger war, etwas ausgeholfen. Zu meinen Aufgaben gehörte es, die Noten zu organisieren, zu kopieren, zu binden und die Pulte hinzustellen. Beim Zusammenkleben der Kopien habe ich den Tesafilm oft mit dem Zahn abgerissen. Und habe mir meinen Zahn dabei sehr verletzt. Ich glaube es war bei einer Mozart-Sinfonie. Danach folgte eine sehr schmerzhafte Behandlung.
Gut, dass es keine Mahler- oder Brucknersinfonie war. Dann hätten Sie gar keine Zähne mehr!
Orozco-Estrada: Ja, richtig! Aber die Geschichte zeigt auch, dass ich den Orchesteralltag wirklich sehr gut kenne und auch gelernt habe, Probleme und Situationen zu lösen, in die ein solcher Apparat geraten kann – bis hin zu den Bedürfnissen eines Dirigenten. Diese Erfahrungen sind für mich heute sehr wertvoll.
Sie haben also den Beruf von der Pike auf gelernt?
Orozco-Estrada: Absolut! Als ich jung war, hatte ich allerdings manchmal das Gefühl, dass einiges nicht schnell genug lief. Ich sah Dirigenten, die jünger oder so alt wie ich und irgendwie weiter waren. Und ich fragte mich: was mache ich falsch?
Selbst ein Herbert von Karajan, einer Ihrer Vorgänger bei den Wiener Symphonikern, hat die sogenannte „Ochsentour“ gemacht. Andererseits stammen Sie aus der Generation eines Daniel Harding, der mit achtzehn Assistent von Simon Rattle war.
Orozco-Estrada: Jeder hat seinen Weg. Ich glaube, dass das Alter nicht immer eine Rolle spielt, eher sind es die Erfahrungen. Und für die braucht man Zeit. Neulich habe ich mich gefragt, wann ich meine erste Chefposition hatte. Mit fünfzehn! Als Chefdirigent des Kinderorchesters an meiner Schule. Dann wurde ich Chef in Graz, Frankfurt, Houston, Spanien. In all den Jahren habe ich ein großes Gespür dafür entwickelt, was ein Orchester, ein Publikum braucht. Heute habe ich das Gefühl, dass ich an einem Punkt bin, wo ich als Musiker über eine gewisse Reife verfüge. Ich merke, wie sehr ich von dem profitiere, was ich mir über die Jahre angeeignet habe. Ich fühle mich erwachsen, volljährig, wenn man so will. Auch als Mensch. Ich freue mich auf mein Leben in Wien und meine neue Aufgabe als Chef der Symphoniker.
Wien. Ihre zweite Heimat?
Orozco-Estrada: Mittlerweile meine erste Heimat.
1997 kamen Sie aus dem kolumbianischen Medellín nach Wien. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck?
Orozco-Estrada: Da gibt es sehr schöne Erinnerungen. Vom Flughafen abends fuhr ich mit dem Taxi am Ring entlang. Ich glaube, so einen langen Weg hatte ich noch nie vom Flughafen in die Stadt. Es war etwa im März und es lag noch sehr viel Schnee. Den hatte ich noch nie im Leben gesehen! Alles war weiß, die Staatsoper, die Straßen, ich war absolut überwältigt, auch wenn es sehr kalt war. Später erlebte ich Mozarts „Figaro“ in der Staatsoper von einem Stehplatz aus. Auch diese Sitte kannte ich nicht. Und am nächsten Tag waren die Berliner Philharmoniker da und haben Brahms unter Abbado gespielt. Ich habe in diesem Moment gedacht: Ich werde alles tun, um hier zu bleiben!
Heute sprechen Sie ein wunderbares Deutsch. Damals schafften Sie nur ein „Grüss Gott“. Wie schwer war es, Deutsch zu lernen? Schwerer als eine Bruckner- oder Mahler-Sinfonie?
Orozco-Estrada: Definitiv. Das heißt aber nicht, dass eine Mahler- oder Bruckner-Sinfonie leicht ist. Dazu habe ich eine kleine Anekdote. Zu meinem ersten Weihnachten 1997 in Wien habe ich mir eine Taschenpartitur gekauft: Mahlers Erste. Als ich sie aufschlug, habe ich absolut nichts verstanden. Gustav Mahler, der ja Dirigent war, hatte alle Dirigier-Anweisungen auf Deutsch geschrieben – auf einem sehr hohen sprachlichen Niveau. Ich habe alle Begriffe ins Spanische übersetzen müssen. Die ersten drei Seiten sehen gelb aus und riechen noch nach diesen Aufklebern, auf die ich die Begriffe schrieb.
Es heißt, Sie waren in Wien weniger im Kaffeehaus unterwegs und mehr auf der Hochschule und bei Proben.
Orozco-Estrada: Ich finde die Wiener Kaffeehaus-Tradition ganz großartig mit all den Schriftstellern und Intellektuellen, die sich dort trafen. Ich aber ging so gut wie nie hin, nicht nur weil ich gar keinen Kaffee trinke und nicht rauche. Mich interessierten eher die Proben dieser großen Orchester hier in Wien. Ich wollte lernen, habe mir angeschaut, was Dirigenten machen, wie eine Probe abläuft, wie man mit den Musikern umgeht.
An der Hochschule waren Sie in der Klasse von Uroš Lajovic, einem Schüler von Hans Swarowsky, dem „Dirigentenmacher“, der noch Richard Strauss kannte. Was lernten Sie dort?
Orozco-Estrada: Uroš Lajovic vermittelte uns die Verbindung zwischen strukturiertem Denken und Emotion. Ich finde beides sehr wichtig, nicht nur im Leben, sondern auch in der Musik. Gerade als Kolumbianer hat man viel Temperament und ist oft sehr emotional und spontan. Das alles ist wunderbar, aber nur die eine Seite. Die ideale Balance ist für mich, wenn auch die andere Seite dazukommt, das strukturierte Denken, die fundierte Analyse, und damit auch die Verantwortung gegenüber dem Komponisten. Beide Seiten müssen nicht immer fünfzig zu fünfzig repräsentiert sein. Sie können auch mal in einem Verhältnis von zwanzig zu achtzig oder dreißig zu siebzig stehen, falls man das so beziffern kann. Wichtig sind aber für mich beide Ebenen.
Bald treten Sie Ihr Amt als Chef der Wiener Symphoniker an. Auf der Website des Orchesters finden sich im Archiv sämtliche Details aller bisher gespielten Konzerte ab dem 18. Januar 1900!
Orozco-Estrada: Ja, das sind die Wiener Symphoniker! Eine 120-jährige Geschichte haben sie, in der anfangs auch die Kaffeehäuser eine große Rolle spielten!
In dem Archiv des Neuen Philharmonischen Orchesters, wie die Wiener Symphoniker damals hießen, findet sich auch das legendäre „Watschenkonzert“ vom 31. März 1913. Arnold Schönberg dirigierte Zeitgenössisches, es gab Tumulte. Kann man heute noch so eine Wirkung erzielen?
Orozco-Estrada: Ja, aber nur in einem anderen Kontext. Mich interessiert das Provozieren weniger, der Skandal entspricht nicht meiner Art. Mich interessiert die Nähe zu den Menschen im Orchester und zum Publikum. Mich interessiert die Wertschätzung der Musik, ich möchte ihre Energie vermitteln, ihre Kraft, ich möchte mit Musik überzeugen. Da kann es sein, dass wir auch negative Reaktionen haben. Aber das macht ja nichts.
Wo liegen bei Ihrer ersten Saison die Schwerpunkte?
Orozco-Estrada: Ich knüpfe an die Entstehungszeiten des Orchesters an, an die Zeit von Korngold, Zemlinsky, Richard Strauss, an die Zeiten, eines hochromantischen Klanges, bei dem jeder im Orchester gefordert ist und sich darstellen kann. Aber ich möchte auch die Wiener Tonsprache eines Haydn wieder lebendig machen. Es gibt sehr viel zu tun. Ich freue mich sehr auf meine Aufgabe. Und jeder, der Zeit und Lust hat, kann kommen und unsere Arbeit verfolgen!