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Interview Alexander Krichel

„Die emotionale Botschaft hat immer Priorität“

Pianist Alexander Krichel über das Spiel mit musikalischen Extremen, seine Beziehung zur russischen Romantik und eine wichtige Kopf-Herz-Entscheidung.

vonAndré Sperber,

Herr Krichel, Sie sind erst mit dem Brexit wieder in Ihre Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt. Was hatte Sie so lange nach England verschlagen?

Alexander Krichel: Nachdem mein langjähriger Mentor Wladimir Krainew 2011 während meines Studiums in Hannover verstorben ist, war ich sehr verzweifelt. Er war wirklich ein Jahrhundertpianist und ich dachte, ohne ihn geht es nicht weiter. Nachdem ich dann bei vielen anderen vorgespielt hatte, lernte ich Dmitri Alexejew am Royal College in London kennen, der ein ähnliches Profil wie Krainew hat. Er sagte zu mir: „Niemand wird Krainew jemals ersetzen können. Aber ich kann versuchen, diesen Weg mir dir weiterzugehen.“ Abgesehen davon, dass Alexejew ebenfalls ein phänomenaler Pianist ist, fand ich diese Geste auch menschlich sehr groß, dass er so über seinen Konkurrenten spricht. Deshalb bin ich bei ihm geblieben und treffe ihn noch immer regelmäßig.

Eine Medizinerkarriere wäre bei Ihnen die Alternative zur Musik gewesen.

Krichel: Genau, das war eine Kopf-Herz-Entscheidung. Meine Familie hat mich mit der Musik immer sehr unterstützt. Aber niemand hat wohl ernsthaft damit gerechnet, dass ich je auf den verrückten Gedanken kommen würde, das zu studieren. Die Freude hielt sich zunächst in Grenzen. Als ich dann aber erstmal angefangen hatte, waren doch alle froh darüber. Was allerdings interessant ist: Dadurch, dass ich erst um die Musik kämpfen und meiner Familie zeigen musste, dass ich das wirklich unbedingt will, weiß ich es heute vielmehr zu schätzen, dass ich diesen Weg gehen konnte.

Wie sind Sie darauf gekommen, Werke von Enescu und Mussorgsky aufzunehmen?

Krichel: Diese Werke haben mich durch die gesamte bisherige Coronazeit begleitet. Enescus zweite Klaviersuite und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ sind sehr intelligent und handwerklich phänomenal komponiert. Gleichzeitig sind sie so emotional und direkt. Die Suite ist im barocken Stil geschrieben und jener Epoche gewidmet. Die „Bilder einer Ausstellung“ sind dem Architekten und Maler Wiktor Hartmann, also der bildenden Kunst gewidmet und stellen unterschiedliche Eindrücke aus dem Leben dar. Ich denke, dass es Kompositionen nochmal eine besondere Stärke gibt, wenn sie an etwas Größeres angelehnt sind. Das erhöht das künstlerische Verantwortungsgefühl auch bei der Interpretation.

Haben Sie ein Lieblingsbild aus Mussorgskys „Ausstellung“?

Krichel: Wenn ich Klavier spiele, versuche ich immer meine persönlichen Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen miteinzubringen. Ich borge mir quasi das Werk des Komponisten, um meine eigene Emotion auszudrücken. Es ist ein unmittelbarer Austausch und eine Art Kommunikation zwischen dem Notentext der Musik und mir. Bei jedem Bild werde ich so quasi zu einem anderen Menschen. Wenn man das so erlebt, dann gibt es kein Lieblingsbild. Dann ist das eine Reise, bei der sich ganz organisch das eine aus dem anderen entwickelt.

Die Klavier-Suite von Enescu ist dagegen sehr barock angelegt. Wie ist es bei Ihnen mit Barockmusik? Sie sind ein Mathematik-affiner Mensch, haben in Ihrer Jugend mehrere Auszeichnungen erhalten. Da könnte man meinen, dass Sie beispielsweise ein großer Bach-Liebhaber sein müssten.

Krichel: Bin ich auch! Das liegt aber weniger am mathematischen Verständnis. Das ist ja auch gar nicht das, worum es mir geht. Klar, so eine analytische Herangehensweise erleichtert das Erkennen von Struktur und Form der Musik. Und natürlich versuche ich, die Musik zu verstehen, bevor ich sie spiele. Aber ich übersetze sie dann ja sofort in eine emotionale Sprache. Auch bei Bach mit seiner scheinbar perfekten musikalischen Architektur geht es in der Musik nicht um diese Strenge, sondern um menschliche Verwundbarkeit, quasi die Perfektion der Imperfektion.

Alexander Krichel
Alexander Krichel

Haben Sie eine bestimmte Vorgehensweise, wie Sie neue Stücke erlernen, oder ist das je nach Stück ganz individuell?

Krichel: Am Anfang geht es immer erstmal darum, den Geist der Komposition zu spüren und die Farben zu erkennen, die darin vermittelt werden. Das gibt die Richtung vor für die Arbeit an Feinheiten. Ich versuche also vom Großen ins Kleine zu gehen, auf der Bühne dann wieder ins große Ganze zurückzukehren, um die innere Botschaft des Werks im Konzert übermitteln zu können.

Gelingt es denn im Konzert immer so, wie Sie es sich vornehmen?

Krichel: Bei jedem Stück, das ich spiele, habe ich bestimmte Klangvorstellungen und weiß genau, wie ich es haben möchte. Aber was dann dabei herauskommt, ist immer nur eine Annäherung dessen, was ich mir vorgenommen habe. Ich kratze im Grunde nur an meiner Vorstellung und versuche, so nahe wie möglich an dieses Ideal heranzukommen. Was anderes ist aber auch gar nicht möglich, wir sind nun mal Menschen. Und in der Kunst kann es gar nichts Absolutes oder Perfektes geben. Ich glaube, wenn man das für sich akzeptiert hat, kann man sich auch auf eine sehr gesunde Art immer weiterentwickeln.

Was ist denn der typische Krichel-Klang?

Krichel: Eine schwierige Frage, die eigentlich lieber andere beantworten sollten. Ich gehe in den Klangfarben und vor allem auch in der Dynamik gerne in die Extreme. Ich traue mich zum Beispiel, auch in einem großen Saal total leise zu spielen, wenn ich denke, dass die Musik das braucht. Auch wenn dann in den hinteren Reihen kaum etwas zu hören ist, kommt das trotzdem irgendwie dort an. Ich versuche mich einfach nicht von technischen oder akustischen Parametern einschränken zu lassen. Die emotionale Botschaft hat immer Priorität. Dasselbe gilt für die lauten Stellen. Da haben meine Mentoren auch während des Studiums oft gesagt: „Während man bei anderen Studenten gießen muss, muss man bei Krichel immer schneiden.“ Vielleicht liegt es auch daran, dass ich zur Hälfte Sizilianer bin – das ist nicht wirklich in meinem Aussehen gelandet, aber vielleicht im Temperament beim Spielen (lacht).

Über Barock haben wir gesprochen. Wie steht es denn mit Neuer Musik?

Krichel: Der Schwerpunk meines Repertoires liegt insgesamt eher bei der deutschen und russischen Romantik und im Impressionismus. Aber ich limitiere mich da nicht und verschließe mich auch nicht gegenüber Neuer Musik. Im Gegenteil, ich war zum Beispiel sehr gut befreundet mit Krzysztof Penderecki. Wir hatten eine wirklich gute Verbindung, er hat mich auch immer sehr geschätzt und gefördert. Zum zwanzigsten Jahrestag der Anschläge am 11. September hatten wir gemeinsam ein größeres Projekt geplant, bei dem ich sein Klavierkonzert „Resurrection“ spielen sollte. Leider ist er dann letztes Jahr verstorben. Aber das Konzert in Kiel werde ich trotzdem spielen.

Was für persönliche Ziele haben Sie sich für die Zukunft gesetzt?

Krichel: Eigentlich versuche ich mehr im Moment zu leben, ich habe da ein gewisses Urvertrauen. Natürlich gibt es immer bestimmte Dinge, die man gerne hätte oder machen würde. Aber solange ich mit meiner Musik leben kann, nehme ich es, wie es kommt. Ein Ziel ist ja auch immer ein Endpunkt, aber viel wichtiger als Endpunkte ist es, Richtungen festzulegen. Man muss wissen, welchen Weg man gehen möchte, und alles andere ergibt sich dann schon von allein.

CD-Tipp

Album Cover für Enescu & Mussorgsky

Enescu & Mussorgsky

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