Kennen Sie das: Sie betreten zum ersten Mal einen historischen Ort und sind sofort verzaubert? Tausend Geschichten rotieren plötzlich in Ihrem Kopf? Der weltberühmten finnischen Sopranistin Aino Ackté ist das passiert. Als sie zum ersten Mal die Burg Olavinlinna im Jahr 1907 besuchte, wusste sie, dass dies der perfekte Ort für ein Opernfestival sein würde. Im Sommer 1912 wurde ihre Vision Wirklichkeit. Damit zählt das heute als Savonlinna Opera Festival bekannte Ereignis, das fast genau einen Monat dauert, zu den ältesten Opernfestspiele der Welt. Auch in diesem Jahr erwartet die Besucher wieder ein opulentes und vielschichtiges Programm. Gezaubert wird zum Beispiel in Richard Wagners „Lohengrin“, wo Karita Mattila als Ortrud für Unheil sorgt. Die Sopranistin gibt damit ihr Festival-Debüt. An ihrer Seite agiert Tuomas Katajala, der international erfolgreichste finnische Tenor der Gegenwart, in der Titelpartie.
Perfekte Kulisse für Verdi
Die diesjährige Neuproduktion ist Giuseppe Verdis „Nabucco“. Für Regisseurin Rodula Gaitanou stellt die Burg die perfekte Kulisse für die großangelegte Oper dar. Babylons Glanz und gleichzeitige Verdorbenheit dient ihr als Inspiration, das wohl wichtigste Problem der Gegenwart zu thematisieren. „Der Klimawandel ist der schlimmste Krieg unserer Zeit, und er wird gegen die Natur geführt“, sagt die in Athen geborene und in London lebende Regisseurin. „Unsere Version ist ein ökologisches Manifest.“ Die Inszenierung ist inspiriert von der Formensprache babylonischer Pyramiden und Paläste. In der Welt, die von Gaitanou und Bühnenbildner Takis geschaffen wurde, führt König Nabucco eine Gruppe von Technokraten an, die an Maschinen, Plastik und hemmungslosen Individualismus glauben. Die epische Geschichte wartet mit einer der stärksten Frauenrollen der Operngeschichte auf. In der Rolle der Abigaille, die auf Rache sinnt, sind alternierend Marigona Qerkezi und Oksana Dyka zu erleben. Mika Kares übernimmt neben Vazgen Gazaryan die Rolle des Hohepriesters Zacharias.
Mika Kares ist auch bei Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ dabei, eine Wiederaufnahme des Festivals. Alternierend mit Matti Turunen übernimmt er die Rolle des wütenden Commendatore, der die Ehre seiner Tochter bis zum letzten Atemzug verteidigt.
Gastproduktionen der Staatsoper Prag und der Norrlandsoperan
Bedřich Smetanas „Die verkaufte Braut“ ist ein Teil der tschechischen DNA. Die Geschichte handelt vom Kampf um die wahre Liebe in einer idyllisch ländlichen Umgebung. Film- und Theaterregisseurin Alice Nellis („Die sieben Raben“) wirft mit ihrer Inszenierung einen humorvollen Blick darauf, wie dieses nationale musikalische Kleinod in fast 160 Jahren für die Bühne adaptiert wurde. So erleben die Festivalbesucher neben der Liebesgeschichte auch die Entstehung einer fesselnden Opernaufführung.
„Die verkaufte Braut“ ist eine Gastproduktion der Staatsoper Prag. Festivalleiter Ville Matvejeff hat sie nach Savonlinna geholt. Was hat ihn dazu bewogen? „Die tschechische Sprache ist sehr sangbar und melodiös“, sagt er. „Bisher waren tschechische Opernwerke in Finnland nur selten zu hören, obwohl beispielsweise sinfonische Werke von Dvořákund Martinůzunehmend im Repertoire zu finden sind.“ Was verbindet Finnland mit der tschechischen Kultur und Geschichte? „Die tschechische Musik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weist eine starke Präsenz nationaler musikalischer Merkmale auf, beispielsweise Volkslieder und rhythmisches Stampfen beim Volkstanz“, erklärt Matvejeff. „Unter den finnischen Komponisten hatten Jean Sibelius, Oskar Merikanto und Erkki Melartin ähnliche Kompositionsansätze.“
Ville Matvejeff ist nicht nur künstlerischer Leiter des Festivals. Als Dirigent übernimmt er regelmäßig selbst Aufführungen, in diesem Jahr die zeitgenössische Oper „Adriana Mater“ der 2023 verstorbenen finnischen Komponistin Kaija Saariaho. Es geht um Krieg, Vergewaltigung und ein ungeborenes Kind. „Trotz der dunklen Thematik strahlt ihre Musik ein helles Licht aus, genau wie Kaijas Persönlichkeit“, so der Dirigent, der im vergangenen Jahr die Uraufführung in Umeå leitete. Jenseits der großen Klangmassen und hämmernden Rhythmen, die den Krieg darstellen, schlägt die Musik mit einem Herzmotiv, das sich durch das gesamte Werk zieht. Es ist eine lebensbejahende Erinnerung daran, wie zwei Herzen gleichzeitig im Körper einer werdenden Mutter schlagen. „Adriana Mater“ ist eine Gastproduktion der schwedischen Norrlandsoperan.
Niemand wird nass
Was gibt es sonst noch zu sagen? Zum einen darf das Große Opernkonzert am 31. Juli nicht unterschlagen werden. Die Staatsoper Prag unter der Leitung von Robert Jindra gestaltet den festlichen Abend zusammen mit Karita Mattila und weiteren namhaften Stimmen. Zum anderen, dass die Zuhörer im Trockenen sitzen: Das Areal ist überdacht. Auch auf dem Weg zur Burg wird niemand nass. Als das Festival 1967 wieder auflebte, konnten die Besucher die Insel nur mit dem Boot erreichen. Heute spazieren die Klassikfans entspannt über eine Schwingbrücke.