Menschsein: Was bedeutet das eigentlich? Wie kann der Mensch über sich selbst nachdenken, ohne in Irrwege zu laufen? Welche Mittel sind ihm gegeben, um Individualität, Selbstverortung, Abzweigungen und Abgründe zu erforschen? Die Ruhrtriennale 2023 sucht Antworten darauf zu geben. „Die Künste fragen weiter, suchen weiter, bringen uns zusammen und machen Mut“, erklärt Barbara Frey, die als Intendantin in diesem Jahr turnusgemäß die letzte Ausgabe der Triennale gestaltet.
Die Kunstformen, die das renommierte und international bekannte Festival wählt, sind so vielfältig wie seine Fragestellungen. Musiktheater, Konzert, Schauspiel, Tanz, Installation, Literatur, Dialog und Film: Das Festival der Metropole Ruhr bestimmt im Spätsommer die Spielpläne der früher von Kohle und Stahl geprägten Großregion. Industriemonumente in Bochum, Dortmund, Duisburg und Essen, die selbst als skulptural geronnene Erinnerung ihr spezifisches Statement liefern, bieten Raum für Experimente und Entdeckungen.
Neuinszenierung „Aus einem Totenhaus“
Eine der Interviewpartnerinnen des kostenlos erhältlichen Festivalkatalogs, der die sieben Festivalwochen mit ausführlichen Texten begleitet, ist die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh. Sie erforscht die dunklen Seiten des Menschseins. Ihr Schwerpunkt liegt in der Begutachtung von schweren Gewalt- und Sexualstraftätern. „Ich verbringe extrem viel Zeit mit menschlichem Elend“, sagt sie. „Aber dazu will ich keine narrative, sekundäre Überformung haben. Ich brauche keine kunstvoll erzählten Schicksale.“ Eine Ausnahme macht sie bei Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. Diese genauen Beobachtungen aus einem sibirischen Gefangenenlager fallen für sie in eine ganz andere Kategorie. „Es ist ein Fass ohne Boden, ein philosophisches Werk eigentlich. Und zugleich für mich der ständige Blick in den Alltagsspiegel.“
In einer Neuinszenierung durch Starregisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov wird Leoš Janáčeks Annäherung an den Stoff für die Besucher ab dem 31. August auch physisch erlebbar. In einer riesigen begehbaren Bühneninstallation löst Tcherniakov in der Jahrhunderthalle Bochum die schützende Trennung zwischen Künstler und Publikum auf. „Aus einem Totenhaus“ wird zu „In einem Totenhaus“. Wir sind mittendrin im brutalen Gefängnisalltag, sind unentrinnbar mitverhaftet mit all denen, die hier eine Existenz als lebendige Tote fristen. Einer der Insassen – viele namenlos und nur als „Sträfling 1, 2, 3“ bezeichnet – ist der Mörder Skuratov. Er erschoss den reichen Bräutigam seiner großen Liebe Luisa. Wir alle könnten Skuratov sein, sagt Nahlah Saimeh. „Dieser Mann ist eine Möglichkeitsform des Menschseins. Und ich bin auch nichts als eine von Abermilliarden Möglichkeitsformen des Menschseins.“
Unter dem Dirigat von Dennis Russell Davies wird eine US-amerikanische Tenorlegende zu hören sein, die sich eigentlich bereits 2015 vom aktiven Bühnengeschehen verabschiedet hatte: Neil Shicoff übernimmt die Partie des „sehr alten Sträflings“. Der Namhaft-Namenlose ergänzt ein herausragendes Ensemble, das sich mitten ins Abenteuer der nicht nur sprichwörtlichen „Publikumsnähe“ stürzt.
Tief graben, hoch fliegen
Auch Georges Aperghis sucht die Nähe. „In meiner Musik gibt es etwas, das mit dem Publikum, den Musikern und auch mit mir sprechen will“, erklärt der griechisch-französische Komponist. „Es ist keine Musik, die aus himmlischen Sphären kommt. Sie ist auf der Erde gemacht, für die Menschen, und sie erzählt von den Menschen, von der Liebe, von der Sprache, vom Körper.“
Als er für ein Auftragswerk der diesjährigen Ruhrtriennale angefragt wurde, sagte Aperghis nicht nur spontan zu, er wusste auch sofort, welches Sujet er wählen wollte. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Jean-Christophe Bailly gräbt er sich tief in die Zechenerde ein, um auf 300 Millionen Jahre alte Kohle zu stoßen – und gleichzeitig das Gedächtnis dieses Stoffes zu erkunden, der sich einst vom Sonnenlicht nährte. „Die Erdfabrik“ heißt das universal-intime Kammermusiktheater, das Urgefühle weckt und an die menschliche Imaginationskraft appelliert. Gespielt wird es ab dem 11. August in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord.
Manchmal jedoch sollten wir zum Himmel schauen. Die russische Komponistin Sofia Gubaidulina, die seit 1992 in Deutschland lebt, tut das unentwegt in ihren Werken, die von religiös-spiritueller Intensität geprägt sind. Umso erstaunlicher ist es, welch ironischen Ton sie für ihre „Revuemusik“ gefunden hat, die im Rahmen des Konzertprogramms „Play Big!“ am 21. und 22. September in der Jahrhunderthalle Bochum erklingt. Hier treffen die NDR Bigband und Basel Sinfonietta aufeinander. Mit „Revuemusik“ sowie dem neuen Werk „Shlimazl“ von Michael Wertmüller und dem spektakulären audiovisuellen „Trio“ von Simon Steen-Andersen mit dem Chorwerk Ruhr verheißt „Play Big!“ Ungewöhnliches. Gubadulinas Stück entstand mitten im Kalten Krieg und bedient sich geradezu geisterhaft an der Ästhetik amerikanischer Unterhaltungsmusik.