„An Pfingsten fallen die Wilden ein“, soll ein involuter Ethnologe mal ironisierend gesagt haben. Gemeint war damit das bunt durchmischte Publikum des Moers Festival, das sich seit mehr als fünfzig Jahren in der Stadt am unteren Niederrhein einfindet. Das Moers Festival steht seit seiner Gründung 1972 für Veränderung – gegen das System, starre Strukturen und Klischees. Anstatt sich mit Gewalt aufzulehnen, rebellieren die Künstlerinnen und Künstler in Moers mit Free-Jazz, Improvisierter Musik, Avantgarde und Afro Beats. „Wir bieten eine Bühne für das Unerhörte, für das Experiment und den musikalischen Wagemut“, beschreibt der Künstlerische Leiter des Festivals, Tim Isfort, die vier Festivaltage. Man solle ohne Erwartungen in eines der Konzerte gehen und wenigstens die erste Viertelstunde durchhalten, dann tue sich in den meisten Fällen ein Raum auf, der zu neuen Klangerfahrungen führe, erklärt er.
Für die 52. Ausgabe vom 26-29. Mai 2023 haben Isfort und sein Team wieder ein vielseitiges und verlockendes Programm auf die Beine gestellt, das auch jene Festivalbesucher*innen beglücken könnte, die sich in der Regel die klassischen Konzerte in den großen Philharmonien anhören. Denn genau wie dort, ist auch in Moers ein Name allgegenwärtig: György Ligeti. Der ungarische Komponist hätte am 28. Mai, also am dritten Festivaltag, seinen 100. Geburtstag gefeiert und wird weltweit für seine Werke gewürdigt. Als inoffiziellen Ehrengast konnte Isfort Lukas Ligeti gewinnen, der ebenfalls als Komponist und Improviser tätig ist, und rund um den Geburtstag seines Vaters in Moers dessen Erbe mit aufrechterhält. Für das 2022 entstandene hybride Format @thesametime, bei dem zeitgleich zwei Konzerte gespielt und später zusammengeschnitten werden, hat Lukas Ligeti das Stück „en même temps“ komponiert, das in der virtuellen Realität moerslandVR als Ganzes erlebt werden kann. Besonders persönlich wird es, wenn er in „… à propos de mon père“ über das Leben und Wirken seines Vaters spricht. Daneben erweitert er extra für Moers sein Werk «Égal… pas pareil… nonpareil» um einen zweiten Satz, das in der erweiterten Fassung von dem Ensembleduo Burkina Electric und BRuCH auf dem Moers Festival uraufgeführt wird.
Auch die international renommierten Trondheim Voices sowie das SWR Vokalensemble setzen sich mit der Musik György Ligetis auseinander. Für „Music from Kylwiria“ hat das Moers Festival Auftragswerke an sechs Komponist*innen vergeben, die in ihrem Schaffen stark von Ligeti geprägt und beeinflusst wurden. Unter der Leitung von Susanne Blumenthal werden die Stücke vom Kollektiv ColLAB Cologne interpretiert. Und auch die Jüngeren können Ligeti kennenlernen: Früher als „Composer Kids“ bekannt, bei dem Kinder und Jugendliche eigene Kompositionen einreichen konnten, die dann von den Musiker*innen des Moers Festivals aufgeführt wurden, drehen die Veranstalter den Spieß dieses Jahr um und machen die Bühne frei für Jugendliche aus den regionalen Musikschulen, die als Festivalmusiker*innen in Anlehnung an Ligetis Oper „Le Grand Macabre“ unter Lukas Döhler ihr Format „le petit macabre“ präsentieren.
AUFBRUCH, ?AFRIKA, LIGETI, WERT und BEFREIUNG
Neben dem Ligeti-Schwerpunkt dreht sich das diesjährige Moers Festival um die Schlagwörter AUFBRUCH, ?AFRIKA, WERT und BEFREIUNG, die von Künstler*innen wie eddy kwon, Nelida Karr, dem Tember Ensemble oder mit den Miles Davis-Weggefährt*innen Kenny Garrett, Billy Hart, Gary Bartz und Marilyn Mazur musikalisch umgesetzt werden.
Insgesamt verteilen sich weit über 70 Programmpunkte auf die vier Festivaltage (https://www.moers-festival.de/programm/). Über 250 Künstler*innen aus 23 Nationen treten in Moers auf drei Hauptbühnen des Festivalgeländes und zahlreichen weiteren Spielorten in der Moerser Innenstadt auf. So findet beispielsweise die Live-Stummfilmvertonung („Das Cabinet des Dr. Caligari“) des Organisten Wolfgang Seifen am Freitagabend in der evangelischen Stadtkirche statt oder kleinere Konzerte sogar im Bürgermeisterbüro.
Noch nicht im Programm aufgeführt, aber ebenso sehenswert sind die Konzerte auf der Bühne Annex, bei der sich spontane Konstellationen unter den Festivalkünstler*innen bilden, die dort in freien Improvisationen das erste Mal gemeinsam miteinander spielen.
Improviser in Residence ist in diesem Jahr das Kollektiv Recursion. Die drei noch sehr jungen Musiker leben und arbeiten im Rahmen ihres Residenzjahres ein Jahr lang in Moers. Selbst mit dem Moers Festival aufgewachsen, sollen sie vor allem gleichaltriges oder jüngeres Publikum ansprechen. Das Ziel, nachfolgende Generationen für die Musik zu begeistern, spiegelt sich auch in den für sie stark reduzierten Ticketpreisen wider. Festivalhelfer*innen bekommen für ihren Einsatz sogar kostenlose Tagestickets (https://www.moers-festival.de/volunteers/).
Grundsätzlich aber gilt: Auch ohne Ticket gibt es an Pfingsten in Moers viel zu erleben. Beim Bummeln mit Familie und Freunden über das Festivaldorf mit zahlreichen, ausgefallenen Marktständen und Workshop-Angeboten kann man das Programm auf der Außenbühne zumindest akustisch miterleben. Oder man wird von einem der diversen Guerilla-Konzerte und fahrenden Freejazz-E-Mobilen musikalisch überrascht.
„Das Moers Festival hat sich ein bedeutsames internationales Renommee aufgebaut, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Moerser das wirklich wissen, auch nach fünfzig Jahren“, sagt Isfort. „Wir sehen es als Teil unseres Auftrags, das zu ändern und den Menschen in der Stadt, der Region und in Deutschland das Festival näher zu bringen.“