Im 100. Todesjahr Mahlers fand 2011 das erste Internationale Mahler-Festival in Leipzig statt, und die Internationale Gustav Mahler Gesellschaft startete eine Gesamtausgabe aller Werke des Komponisten. 2023 wird das Gewandhaus zu Leipzig erneut ganz im Zeichen Mahlers stehen, wenn alle Sinfonien und weitere Orchesterwerke erklingen, interpretiert von zehn Spitzenorchestern in neunzehn Tagen. Sinfonien und weitere Orchesterwerke in der Stadt zu erleben, in der Mahler zum Sinfoniker wurde, ist einzigartig. Neben Konzerten des Gewandhausorchesters unter der Leitung seines Gewandhauskapellmeisters Andris Nelsons sind u.a. Konzerte mit den Münchner Philharmonikern, dem Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam oder dem City of Birmingham Symphony Orchestra geplant. Ebenso im Programm: eine mehrtägige Meisterklasse und ein Liederabend mit Thomas Hampson sowie Klavierabende mit Igor Levit und Michael Wollny. Ergänzt wird das Konzertprogramm durch eine international besetzte Vortragsreihe hochkarätiger Musikwissenschaftler.
Warum Leipzig?
Oft ist nicht die Dauer entscheidend, sondern das Erlebte: Gustav Mahler verbrachte zwar nur zwei Jahre in Leipzig, doch prägte ihn diese Zeit stark. Von August 1886 bis Mai 1888 dirigierte er fast täglich das Gewandhausorchester als neuer Kapellmeister. Bei seinem Amtsantritt war der 26-Jährige kaum bekannt als Dirigent, geschweige als Komponist. Danach war er „mit einem Schlage eine bekannte Persönlichkeit geworden und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt“, teilte er stolz seinen Eltern mit.
Auslöser dafür waren seine überzeugenden Ergänzungen von Carl Maria von Webers Opernfragment „Die drei Pintos“, die von der gesamten internationalen Musikwelt wahrgenommen wurden. Beflügelt von diesem Erfolg schrieb er in nur sechs Wochen seine erste Sinfonie, deren genaue Entstehungsgeschichte nicht bekannt ist. Fakt ist aber, dass zwei Frauen eine Inspiration für den Komponisten waren: Sängerin Johanna Richter und Marion von Weber, die Frau eines Enkels von Carl Maria von Weber. Sie hielt am 25. März 1888 zu ihrem 32. Geburtstag ein Widmungsexemplar des ursprünglichen zweiten Satzes „Blumine“ in Händen. Sein vollendetes Werk hatte der Komponist mit „Titan“ überschrieben als Verweis auf Jean Pauls gleichnamigen Roman, es sollte ein umfassendes Loblied auf das Leben in all seinen Facetten sein.
Mahler und Nikisch
Bei seiner Abreise aus Leipzig hatte er außerdem Skizzen zu einer zweiten Sinfonie im Gepäck sowie erste Lieder zu „Des Knaben Wunderhorn“, einer Textsammlung mit Volksdichtungen, die er sehr schätzte. Für Mahler blieb Leipzig eine wichtige Station seiner Karriere. Seine Weber-Bearbeitung, mehrere Lied-Sammlungen sowie drei seiner Sinfonien wurden von Leipziger Verlegern veröffentlicht. Die Kontakte, die Mahler in Leipzig geknüpft hatte, begleiteten ihn seine gesamte Laufbahn hindurch, darunter Peter Tschaikowsky, Ferruccio Busoni und Richard Strauss. In Arthur Nikisch fand Mahler einen Konkurrenten und einen seiner größten Unterstützer. Nach anfangs „peinlichstem Rivalismus“ wurde der Erste Kapellmeister der Oper ein gefragter Interpret von Mahlers Sinfonien und setzte dessen Werke auf die Spielpläne seiner Wirkungsstätten.
Mahler starb am 18. Mai 1911 in Wien. Ein halbes Jahr darauf begann im Gewandhaus die vermehrte Rezeption seiner Werke. Die Spielzeit nach Mahlers Tod eröffnete Nikisch mit den „Kindertotenliedern“ und bestand hartnäckig darauf, zum Gedenken an seinen Kollegen dessen komplette zweite Sinfonie aufzuführen. Diese war 1906 als erstes vollständiges Werk Mahlers im Gewandhaus erklungen und hätte passender nicht sein können. Denn der erste Satz basiert auf Skizzen der Leipziger Zeit und war zuvor mit „Todtenfeier“ überschrieben. Nikisch war es auch, der die erste Sinfonie 1918 erstmals im Gewandhaus dirigierte, als er nach Stationen in Budapest und Boston als Gewandhauskapellmeister nach Leipzig zurückgekehrt war.
Heute leitet Andris Nelsons als Gewandhauskapellmeister das Orchester. An seine erste Begegnung mit Mahlers Musik kann sich der gebürtige Lette noch gut erinnern: „Das war relativ spät, im Alter von elf Jahren. In dieser Zeit begann ich Trompete zu spielen und machte Kampfsport wie Taekwondo. Neben der körperlichen Aktivität interessierten mich Philosophie und Psychologie, Selbstdisziplin und Mystik, die die Kampfkunst umgibt, und ich suchte nach Musik zur Meditation. Zur Sowjetunion-Zeit war es schwer, an Aufnahmen zu kommen. Ein Freund erzählte mir von einer Kassette mit Musik, die mit Naturlauten, mit Vogelgesang und dergleichen anfinge. Er gab sie mir – und das war Mahlers erste Sinfonie!“