Wer wollte schon bestreiten, dass die Schweizer tatsächlich als ein beschenktes Völkchen gelten dürfen? Wohin man auch blickt: Berge und Flüsse, Natur und Kultur, zufriedene und freundliche Menschengesichter, eine fast surreal anmutende Idylle angesichts der Traumata, die unsere Welt tagein, tagaus durchlebt. Hier, so scheint es, ist sie noch in Ordnung.
Im breiten Tal der Landquart schmiegt sich der Kurort Klosters symbiotisch in die Bündner Berge ein. Kristallklare Gewässer und sattgrüne Wiesen bieten die atemberaubende Kulisse für ein hochkarätiges Musikfestival, das nach seinem kleinen Jubiläum im vergangenen Jahr im August 2024 in seine sechste Saison startet: „Klosters Music“ gibt sich nicht nur dem Namen nach weltmännisch, das Festival hat auch allen Grund dazu. Denn unter dem Motto „Begegnungen“ laden sich die Klosterser für zehn Konzerte eine höchst illustre Künstlerschar von internationalem Rang ins Prättigau.
Ein weltmännisches Festival in der Schweizer Idylle
Allein schon die Debütanten bedienen die komplette Windrose der Musikwelt: Ob Thomas Hampson oder Jan Lisiecki, Maxim Emelyanychev oder Alina Ibragimova, Ben Goldscheider oder Christoph Koncz – sie alle kommen zum ersten Mal in den malerischen Talkessel der Landquart. Wiederholungstäter sind ebenso András Schiff wie Maurice Steger, Nuria Rial und Nikolaus Schmid. Gerne kommen auch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Münchener Kammerorchester und das Janoska Ensemble nach Klosters zurück.
Dabei verstehen sich die „Begegnungen“ von „People and Places“ durchaus doppeldeutig, denn dank der drei eher kleinen Konzertstätten und auch dank eines umfangreichen ehrenamtlichen Engagements vieler Klosterser Bürger verströmt das Festival trotz seines internationalen Anspruchs eine sehr familiäre Atmosphäre: Mitten in der Natur begegnen sich die Künstler nicht nur auf der Bühne, sondern sind auch dem musikbegeisterten Publikum ganz nah. Das führt auch dazu, dass das Festival entgegen dem allgemeinen Trend immer weiter steigende Besucherzahlen meldet, was wiederum beweist: Hochkultur muss nicht zwingend etwas mit Pelz und Chichi zu tun haben – und Größe entsteht nicht durch Äußerlichkeiten, sondern durch Authentizität. „Mit unseren qualitativ hochwertigen Konzerten wollen wir einen Rahmen schaffen für vielfältige Begegnungen. Wir möchten Klosters mit unserem Festival im Sommer zu einem Hotspot für Liebhaberinnen und Liebhaber klassischer Musik machen, zu einem echten Place-to-be“, sagt denn auch Heinz Brand, Präsident der veranstaltenden Stiftung Kunst & Musik, Klosters. Und im besten Sinne des Wortes populär ist dabei nicht nur das fulminante Abschlusskonzert mit dem City Light Symphony Orchestra, das Musik aus oscarprämierten Hollywood-Filmen spielt.
Authentizität statt Oberflächlichkeit
Das Festivalmotto drückt sich im gesamten Programm aus, denn im Laufe der Geschichte haben Musiker immer schon die ganze Welt bereist. Antonín Dvořáks 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ ist dafür wohl allein schon eines der berühmtesten Beispiele, denn der berühmte Böhme, der als Konservatoriumsdirektor nach New York eingeladen worden war, ließ sich für sein wohl bekanntestes Werk von der Musik der amerikanischen Ureinwohner inspirieren.
Nachdem die Neunte im Eröffnungskonzert erklingt, spielt nur einen Tag später der weltgewandte Pole Jan Lisiecki ein ähnlich berauschendes Glanzwerk der Romantik: das Klavierkonzert von Edvard Grieg – übrigens ebenfalls ein weit gereister Musiker, der sich im sächsischen Leipzig ausbilden ließ. Auch Jean Sibelius’ „Karelia-Suite“ malt musikalische Bilder vom Südosten Finnlands, wo der Komponist regelmäßig verweilte und auch seine Flitterwochen verbrachte. Georg Friedrich Händel wiederum kam als „der berühmte Sachse“ erst in England zu allerhöchsten Ehren und zu einer Berühmtheit, die man sich heute kaum noch vorstellen kann.
Von Spanien bis Tschechien, von Norwegen bis Italien – ein breit aufgestelltes Programm
Mit dem Ausnahmeflötisten Maurice Steger und der katalanischen Sopranistin Nuria Rial wandert das Festival aber auch von Spanien nach Italien und damit quer durch die Barockzeit des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Ausnahmebariton Thomas Hampson nimmt das Publikum mit auf eine Reise nach Amerika und widmet sich, obwohl eigentlich Opernsänger, dem Jazzrepertoire des „Great American Songbook“ – seinerseits eine vielfältige Tour von George Gershwin über Cole Porter bis hin zu Harold Arlens Klassiker „Over The Rainbow“. Begleitet wird Hampson dabei vom Janoska Ensemble, das ebenso wie er eher klassisch ausgebildet wurde, aber für seine besonderen Improvisationskünste und so unverwechselbaren wie virtuosen Grenzüberschreitungen bekannt wurde.
Ein großer Name dürfte für viele Konzertfans natürlich auch Sir András Schiff sein: Der ungarische Meisterpianist, der mit seinem Heimatland allerdings wegen der dortigen aktuellen politischen Entwicklungen gebrochen hat, ist in Klosters von Beginn an dabei und wird dieses Mal gleich zwei Klavierrezitals hintereinander mit unterschiedlichem Programm in der Kirche St. Jakob geben.
Ein Festival als harmonisches Kunstwerk
Mit dem Münchner Kammerorchester und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die mit dem Dirigenten-Shootingstar Maxim Emelyanychev für das gesamte Eröffnungswochenende eingeladen ist, kommen auch zwei kleine, aber sehr feine orchestrale Klangkörper in das Prättigau. Dort muss der August nun nur noch dafür sorgen, dass die in warmes Spätsommerlicht getauchte Kulisse den synästhetischen Rahmen für die exquisiten Konzerte bildet und zum Gesamtkunstwerk formt – und schon kann man es getrost wiederholen: Ja, die Schweizer sind ein beschenktes Völkchen.