Richard Wagner und Bayreuth gehören einfach zusammen. Doch wie ist es mit Wiesbaden? Tatsächlich verbrachte der Komponist einige Zeit in Biebrich, das heute zur hessischen Landeshauptstadt gehört. Das veranlasste Theaterintendant Georg von Hülsen wenige Jahre nach Wagners Tod, ein Festival nach dessen Vorbild ins Leben zu rufen. Dabei mag es dem kaisertreuen Intendanten auch darum gegangen sein, „das kunstsinnige Fremdenpublikum nach Wiesbaden zu ziehen“ und „der Stadt eine Entschädigung für die dem großartigen Prachtbau gebrachten Opfer zu bieten“, womit er das 1894 errichtete Theater meinte. Dank der finanziellen Unterstützung von Kaiser Wilhelm II. fanden bereits zwei Jahre später die ersten Festspiele statt – unter anderem mit gleich vier Wagner-Opern.
Der Kaiser wollte sich in Wiesbaden aber nicht nur als Zuschauer sehen, sondern als aktiver Gestalter. Doch seine Heldengeschichten wurden von der Öffentlichkeit als „äußerst belanglos“ kritisiert, weswegen er sich fortan auf unpolitisches Ausstattungstheater mit opulenter Optik konzentrierte. Ein erstes Werk dieses neuen Stils war Carl Maria von Webers an Pracht kaum zu überbietende Oper „Oberon“. Die Aufführung war ein voller Erfolg, Einnahmen von mehr als einer Million Mark bis zum Jahr 1910 sollen alleine durch die 162 ausverkauften Aufführungen geflossen sein.
Das Staatstheater Wiesbaden steht für hochkarätige Veranstaltungen
Während der beiden Weltkriege sowie in den Jahren dazwischen fanden die Festspiele allenfalls sporadisch statt. Erst 1950 wurden sie wieder als Maifestspiele neu ins Leben gerufen. Im Vergleich zu Bayreuth, wo ausschließlich Opern aufgeführt werden, setzt man in Wiesbaden auf Vielfalt. Nachdem die Festspiele 2020 aufgrund der Pandemie abgesagt und im Jahr darauf das Programm den Bestimmungen angepasst werden musste, sind sie nun mit dem gewohnt breiten Spektrum zurück. Einen Monat lang gibt es neben Opern von Widmann, Verdi, Mozart und Tschaikowsky auch Tanz und Schauspiel, Filme, Lesungen und Festspiele für junges Publikum. Außerdem wird die für das letzte Jahr geplante Jubiläumsausstellung anlässlich des 125-jährigen Bestehens im Stadtmuseum nachgeholt, die anhand zeitgenössischer Requisiten und kostbarer Erinnerungsstücke ein fundiertes Bild von der Entwicklung des Theaters im Laufe der Jahrzehnte vermitteln soll.
Vom 30. April bis zum 31. Mai 2022 sind über 900 Künstlerinnen und Künstler unter anderem aus Italien, Großbritannien, Irland, Spanien, Frankreich und Armenien zu Gast in Wiesbaden. Vorgesehen sind zahlreiche Gastspiele und fünfzehn Produktionen des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, darunter drei Premieren. Außerdem mischt die Freie Szene aus Wiesbaden mit. Fünf Ukrainische Künstlerinnen und Künstler gestalten mit der Wanderbühne Freudenberg ein Wochenende voller Musik und Tanz.
Einen Monat lang finden die Internationalen Maifestspiele in Wiesbaden statt
Bereits der Vorabend der Internationalen Maifestspiele beginnt mit einem Highlight: Zum 200-jährigen Jubiläum seiner Uraufführung wird Webers „Freischütz“ durch das Freiburger Barockorchester unter Leitung von René Jacobs in einer konzertanten Aufführung zu erleben sein. Doch der eigentliche Höhepunkt des diesjährigen Festivals ist die Opernpremiere „Babylon“ von Jörg Widmann. Das 2012 an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführte Werk beweist in eindringlicher Weise, wie überwältigend und mitreißend zeitgenössisches Musiktheater sein kann. Das Hessische Staatstheater Wiesbaden wagt sich an die weltweit erst dritte szenische Umsetzung dieses monumentalen Werks. Regisseurin und Bühnenbildnerin Daniela Kerck hat dafür einen Raum entworfen, der das Transitorische der von Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Libretto beschriebenen religiösen Übergangswelt eindringlich erlebbar werden lässt.
Ein weiterer Schwerpunkt ist der Wiesbadener Mozart-Zyklus, bei dem alle sieben Meisteropern des Komponisten in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt werden. Eine einmalige Gelegenheit, sie im Zusammenhang neu zu betrachten. Zudem gastiert das renommierte Teatro Petruzzelli aus Bari mit Verdis „Aida“ und der „Messa da Requiem“ bei den diesjährigen Festspielen. Zum Abschluss wird das „Gespensterschloss“ gespielt, ein polnischer Opern-Klassiker von Stanisław Moniuszko, der aber in Deutschland nur selten gespielt wird. Die junge Regisseurin Ilaria Lanzino erhielt mit dieser Aufführung den Europäischen Opernregiepreis.
Das Publikum erwartet spannende Kreationen
Ein weiterer Glanzpunkt stellt das Gastspiel des Berliner Ensembles mit Barrie Koskys gefeierter Neuinszenierung von Kurt Weills „Dreigroschenoper“ dar. Außerdem dürfen sich Schauspiel-Fans auf eine zwölfstündige Gesamtaufführung aller drei Teile von Tom Stoppards „Die Küste Utopias“ freuen. Tanzbegeisterte erwartet unter anderem die international gefeierte Kreation „MÁM“ von Choreograf Michael Keegan-Dolan, eine Mischung aus irischer Tradition und zeitgenössischer Choreografie, die nach England, Spanien und Neuseeland erstmals in Deutschland aufgeführt wird.
Intendant Uwe Eric Laufenberg, den die Einschränkungen der letzten beiden Jahre sehr geschmerzt haben, ist sichtlich erleichtert, dass die Maifestspiele nun endlich wieder zurück sind: „Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf großen kunst- und geistesgeschichtlichen Aufbrüchen – was in der aktuellen Situation, die nach einem großen Aufbruch geradezu schreit, eine Ermutigung sein kann.“