Nicht viele weltberühmte Geiger können von sich sagen, ein eigenes Festival zu leiten. Die meisten leben wohl doch lieber nur ihrer Kunst und tun sich die Mühen der administrativen Ebenen nur ungern an – die sind, je nach Größe, durchaus beträchtlich, wovon das Publikum nichts weiß und möglichst ja auch nichts mitbekommen soll. Der in Litauen geborene Geiger Julian Rachlin, dessen Familie schon in den siebziger Jahren nach Österreich emigrierte, sucht jedoch genau diese Herausforderung: einerseits Künstler, andererseits Ermöglicher zu sein. Ein Interview über seine Beweggründe und den besonderen Reiz seines Festivals „Herbstgold“ im burgenländischen Eisenstadt.
Dieses Jahr steht das Festival „Herbstgold“ unter dem Motto „Sehnsucht“. Würden Sie uns bitte Ihren Begriff davon beschreiben?
Julian Rachlin: Um den Menschen zu verstehen, muss man seine Sehnsüchte kennen. Sehnsucht allein auf das Romantische zu beziehen, wäre aber zu trivial. Es lohnt sich, immer wieder innezuhalten und sich seiner eigenen Sehnsüchte bewusst zu werden. Gerade in schwierigen und unsicheren Zeiten vereint uns die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Musik ist die unmittelbare Manifestation der menschlichen Sehnsucht. Was liegt also näher, als in die Welt der Musik einzutauchen, die nur durch Bewegungen der Gefühle und sehnsüchtige Schwingungen der Seele entsteht? Dieses Eintauchen in alle Varianten der Sehnsucht möchte ich mit meinem Publikum beim Festival teilen.
Was ist für Sie das Besondere an der herbstlichen Kulisse des Schlosses Eisenstadt?
Rachlin: Schloss Esterházy hat zu allen Jahreszeiten einen einzigartigen Charme. Im Herbst, wenn sich die Blätter im Schlosspark verfärben, bekommt das Schloss noch eine besondere atmosphärische Umrahmung. Daher ist das Festival die ideale Gelegenheit, den Herbst musikalisch einzuläuten.
Wie erleben Sie die persönliche Begegnung des Publikums mit den Künstlern?
Rachlin: Die Besucherinnen und Besucher dürfen sich auf Begegnungen mit außerordentlichen Künstlern in einem ebenfalls außergewöhnlichen Rahmen freuen. In den Räumlichkeiten des Schloss Esterházy, besonders im Haydnsaal, ermöglicht es, Künstler von Weltrang hautnah zu erleben.
Ihr Programm umfasst fast alle Sparten des Musikbetriebs. Wie wichtig ist heutzutage programmatische Vielfalt für ein Festival?
Rachlin: Die programmatische Vielfalt eines Festivals ist enorm wichtig. Denn je breiter das Spektrum, desto mehr Bedürfnisse und Interessen des Publikums können abgedeckt werden. Im Programm des Herbstgold-Festivals sind Klassik-Aufführungen von der Oper über große Orchesterkonzerte bis zum Liederabend, zur Kammermusik genauso zu finden wie literarisch-musikalische Programmpunkte, ergänzt um unvergessliche Abende mit Jazz- oder Weltmusik und umrahmt vom Kulinarik-Festival Pan O’Gusto.
Sie sind selbst ein leidenschaftlicher Kammermusiker. Was ist für Sie das Besondere daran?
Rachlin: Für mich ist Kammermusik der Inbegriff der intimsten Form des Musizierens und Musikerlebnisses – gleichsam das Herz und die Wurzel aller Musik. Der Begriff impliziert buchstäblich, Musik in einem kleinen Raum zu machen. Das bedeutet, aufeinander zu hören und respektvoll miteinander in der Gruppe umzugehen. Dieser Ansatz, dieses bewusste Hören und der respektvolle Umgang miteinander, sollte als oberstes Gebot auch in Orchesterkonzerten oder größeren Orchesterbesetzungen – ob in der Oper oder bei einem symphonischen Konzert – gelten. Bei der Erarbeitung und den Proben eines Werks sollte der Geist der Kammermusik stets gegenwärtig sein. Selbst mit einem riesigen Orchester vor sich sollte das Ziel sein, die Musik so anzugehen, als ob man ein Streichquartett spiele. Hierbei steht die Sensibilität des Hörens und des respektvollen Miteinanders im Vordergrund. Die Kammermusik ist daher ein vorbildliches Modell für das gemeinsame Musizieren, sei es in einer kleinen Gruppe oder in einem großen Orchester. Es geht darum, die Intimität und den Respekt, den die Kammermusik verkörpert, auf alle musikalischen Aktivitäten zu übertragen.
Was reizt Sie als weltbekannten Geiger am Produzieren eines Festivals?
Rachlin: Es ist quasi ein Seitenwechsel – ich selbst bin als Dirigent, Geiger und Bratschist in der ganzen Welt unterwegs. In meiner Rolle als Intendant des Herbstgold-Festivals darf ich nun die Rolle des Einladenden einnehmen. Zwölf Jahre lang leitete ich das Festival „Julian Rachlin & Friends“ im kroatischen Dubrovnik und lernte so bereits Musikfestivals von einer anderen Perspektive kennen. Das Festival in Dubrovnik hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, die Bevölkerung für kulturelle Projekte in der Heimatstadt zu gewinnen. Auch hier in Eisenstadt möchte ich, dass die Bewohner sich mit Herbstgold identifizieren und darauf stolz sind.