„Es ist ein Sachse in dieser Stadt eingetroffen, der ein ausgezeichneter Cembalospieler und Komponist ist“, notierte der Chronist Francesco Valesio im Januar 1707 anlässlich der Ankunft von Georg Friedrich Händel in Rom. Vom Herbst 1706 bis zum Frühjahr 1710 lebte der gebürtige Hallenser in Italien, die meiste Zeit davon verbrachte er in der ewigen Stadt. Hier lernte er bedeutende Kollegen wie Alessandro und Domenico Scarlatti kennen und erwies sich als umtriebiger Tonschöpfer: Allein mehr als einhundert Kantaten brachte Händel in Italien zu Papier. Unter dem Motto „Frischer Wind: Der junge Händel in Italien“ spüren die Händel-Festspiele Halle diesem Lebensabschnitt ihres Namensgeber nach. Vom 6. bis 15. Juni stehen insgesamt 66 Veranstaltungen an 17 Aufführungsorten in und um Halle auf dem Programm.
Bereits am ersten Wochenende setzt das Festival mit „Harmony in Break“ neue Akzente. In Workshops mit Choreograf Raphael Moussa Hillebrand erarbeiten Jugendliche aus Halle ein einzigartiges Tanzprojekt, das Musik von Händel mit Hip-Hop und Stücken des jungen Komponisten Oscar Jockel verbindet – interpretiert vom Gewandhaus Brass Quintett und dem Neuen Bachischen Collegium Musicum Leipzig.
Ein Stoff, zwei Opern
Musiktheater-Liebhaber haben indes die Gelegenheit, Händels erste wichtige Oper „Agrippina“ mit ihrer geistigen Vorlage, Reinhard Keisers „Octavia“, zu vergleichen. Während Händel mit spritzigen Melodien und jeder Menge Humor die dysfunktionalen Beziehungen innerhalb der Familie von Herrscher Nero auslotet, fokussiert sich sein einstiger Hamburger Chef in seinem Werk ganz auf Neros Mutter und erste Ehefrau, Octavia. Diese versucht mit Hilfe des Philosophen Seneca, ihren mörderischen Gatten zu überlisten und so ihr Leben zu retten. Beide Stücke sind bei den Festspielen in prominenter Besetzung zu erleben: Walter Sutcliffe inszeniert „Agrippina“ an der Oper Halle, die musikalische Leitung hat der britische Händel-Experte Laurence Cummings inne. Keisers „Octavia“ feiert hingegen am Goethe-Theater Bad Lauchstädt in einer szenischen Produktion der lautten compagney BERLIN Premiere, die Titelpartie übernimmt Sopranistin Johanna Kaldewei.
Dass Alte Musik in der Gegenwart nicht an Relevanz eingebüßt hat, wird im Auftakt-Konzert im Dom zu Halle einen Tag vor der Eröffnung deutlich. Denn die Botschaft von „Das Alexanderfest“ – dass Musik helfen kann, Krieg und Zerstörungswut zu überwinden – ist mit Blick auf die geopolitischen Verwerfungen in der Welt höchst aktuell. Das Händelfestspielorchester, der diesjährige Händelpreisträger, und sein Chefdirigent Attilio Cremonesi lassen das Oratorium in der italienischen Fassung von 1788 erklingen. Eine weitere Vertonung rund um Alexander dem Großen ist mit „Poro, re dell’Indie“ in der Konzerthalle Ulrichskirche geplant. Die konzertante Aufführung der Oper gestaltet eine hervorragende Sänger-Besetzung um Sopranistin Julia Lezhneva und Altistin Lucile Richardot.
Auf den Spuren von „Israel in Egypt“
Neben dem „Messias“ zählt „Israel in Egypt“ zu Händels populärsten Oratorien. Weniger bekannt ist jedoch, dass der Hallenser für das chorgesättigte Werk rund um den Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft auf drei eigenständige Kompositionen zurückgegriffen hat: auf ein Magnificat von Dionigi Erba, eine Serenade von Alessandro Stradella und seine Trauer-Hymne für Königin Caroline. In Kooperation mit dem Stadtsingechor zu Halle kommen sie nun zu Gehör, das nachmittägliche Konzert ist überdies dem 2024 verstorbenen Ägyptologen und Händel-Liebhaber Jan Assmann gewidmet. Am Abend geben das französische Renommierensemble Le Concert Spirituel und Dirigent Hervé Niquet ihren Festspieleinstand mit „Israel in Egypt“. Apropos Oratorium: Wie prächtig die Musik geklungen haben mag, auf die Händel in Italien stieß, lässt sich mit Alessandro Scarlattis nur selten gespielter „La Santissima Annunziata“ nachhören, die Fabio Biondi und Europa galante im Halleschen Dom aufführen.
Humorvolle Zeitreisen nach London und Versailles
Auch im konzertanten Bereich warten die Festspiele mit abwechslungsreichen und erstklassig besetzten Veranstaltungen auf. Im Carl-Maria-von-Weber-Theater Bernburg wandelt die lautten compagney BERLIN an zwei Terminen abseits gängiger Pfade: Gemeinsam mit Schauspieler Gustav Peter Wöhler und Sängerin Susanne Ellen Kirchesch unternimmt das Ensemble mittels der Tagebücher des englischen Lebemanns Samuel Pepys einerseits eine humorvolle Zeitreise ins London der 1660er-Jahre. Andererseits geben Briefe von Liselotte von der Pfalz, vorgetragen von Gisa Flake, ehrliche, bisweilen auch derbe Einblicke in das Leben am Hof des französischen Sonnenkönigs.
Im Festsaal der Leopoldina präsentieren die Händel-Preisträgerin von 2023, Anna Bonitatibus, und Cembalist Mahan Esfahani Solo-Kantaten aus Händels italienischer Periode. Ein weiterer vokaler Höhepunkt kündigt sich am Pfingstmontag an, wenn mit Bruno de Sá, Ray Chenez und Max Emanuel Cencic drei der gefragtesten Sänger ihres Fachs Händels schönste (Koloratur-)Arien singen.
Mediterraner Abschluss
Zum Festivalausklang sind die Besucher traditionell zu zwei Open-Air-Konzerten inklusive Feuerwerk in die Galgenbergschlucht eingeladen. Nach französischen Glanzstücken im Vorjahr setzen 2025 sommerlich-mediterrane Klänge den Schlusspunkt. Vokale Unterstützung erhält die Staatskapelle Halle dabei von zwei aufstrebenden Solisten, der schottischen Mezzosopranistin Beth Taylor und dem italienischen Countertenor Nicolò Balducci.